Musikalisches Gewissen
Von Kai Köhler
Am 9. August 1942 erlebten deutsche Soldaten vor Leningrad unfreiwillig ein Konzert. Sie hatten die Stadt seit fast einem Jahr von nahezu jeder Lebensmittelzufuhr abgeschlossen. Im vorangegangenen Winter waren dort Hunderttausende verhungert, dazu kamen Artilleriebeschuss und Bombenangriffe.
Eigentlich hätten die Leningrader kaum mehr als zu den notwendigsten Bewegungen fähig sein dürfen. Nun aber wurden die Belagerer über Lautsprecher mit der Liveaufführung einer 75minütigen Sinfonie beschallt. Von zwei langen und für die Musiker kraftraubenden Steigerungen beginnt die im ersten Satz mit einem Marsch, der allmählich lauter wird, bis seine einzelnen Elemente ihren Zusammenhang verlieren und schließlich aneinander zerschellen. Sie steht für die Schrecken des Krieges. Die Steigerung im Finale führt dann von einem Moment der Trauer und völliger Erstarrung beinahe zum Triumph. Doch ist es dafür im Jahr 1942 zu früh. Die letzten Takte sind von zorniger, trotziger Entschlossenheit bestimmt. Den Leningradern machten sie in den Tagen, als die Wehrmacht auf Stalingrad zumarschierte, den nötigen Mut. Und ihre Belagerer mussten hören, dass die Sowjetunion noch lange nicht am Ende war.
Schostakowitsch beendete die Sinfonie, nachdem er nach Kuibyschew evakuiert worden war, wo am 5. März 1942 die Uraufführung stattfand. Für die Leningrader Erstaufführung mussten erst Musiker zusammengesucht werden. In der Stadt waren nur die Reste des Radiosinfonieorchesters verblieben. Bei einer ersten Probe fanden sich nur noch 15 Musiker zusammen. Die anderen waren entweder an der Front oder gefallen oder verhungert. Und den Anwesenden fehlte die Kraft, ein solch langes Werk durchzustehen. Nur mittels Extrarationen und mit Ersatzkräften im Orchester war das Konzert am 9. August 1942 möglich.
Schon hatten im Juni 1942 die britische, im Juli die US-amerikanische Erstaufführung stattgefunden. Das Werk wurde so zur klingenden Bekräftigung des Bündnisses. Auch darum ist Schostakowitsch im gegenwärtigen Bewusstsein als der Kriegskomponist schlechthin verankert. Auf ganz unterschiedliche Weise haben aber auch andere sowjetische Komponisten zur Befreiung vom Faschismus beigetragen.
Sergej Prokofjews »Ballade vom unbekannten Knaben« (1942/43) ist eine gut 20minütige Kantate. Chor, Orchester und Solisten berichten über ein Kind, das bei einem faschistischen Massaker Mutter und Schwester verliert. Der Junge nähert sich dem Wehrmachtskommandanten und tötet ihn mit einer Granate. Heldentat und vorzeitiger Verlust der Kindheit sind ineinander verschränkt. So unmissverständlich Prokofjew die groteske Marschwelt der Deutschen mit der Melodik der Verteidiger kontrastiert, so hell er die Explosion der Granate klangmalerisch gestaltet – der Schrecken des Krieges bleibt deutlich. Die einzelnen Episoden sind so plastisch komponiert, dass sich der Verlauf auch ohne Kenntnisse des Russischen mitvollziehen lässt.
Ein enger Freund Prokofjews, Nikolai Mjaskowski, hatte seine 22. Sinfonie bereits Anfang November 1941 fertiggestellt. Ihre drei Sätze gehen ohne Pause ineinander über. Der erste und längste schildert das Leben vor dem Krieg, doch im Rückblick. Immer wieder ist die Stimmung verschattet und man spürt, dass das Glück nicht von Dauer sein wird. Der zweite Teil hat zum Stoff, wie der Krieg einbricht. Das ist – verglichen mit Schostakowitschs 7. Sinfonie – ganz ins Innere zurückgenommen, als beklemmendes Hörbild von Bedrohung und Angst. Wenn das Finale mit marschartigen Episoden dagegen Widerstand aufbietet, so führt das zu beachtlicher Klangentfaltung. Doch so richtig geht es in diesem Satz nicht voran, die Musik scheint auf der Stelle zu treten – als Abbild einer Lage, in der es um trotziges Beharren ging und eine Gegenoffensive noch kaum absehbar war. Das Werk, wie Mjaskowski Kompositionen überhaupt, wirkt zunächst abweisend. Doch wurde der Komponist nicht zufällig als das »musikalische Gewissen Moskaus« bezeichnet, und bei wiederholtem Hören entdeckt man viele Schönheiten.
In seiner 23. Sinfonie von 1942 verwendete Mjaskowski die Volksmusik des Kaukasus, wohin er aus Moskau zunächst evakuiert worden war, und komponierte so die Verbundenheit der Sowjetvölker. Sein Schüler Dmitri Kabalewski hingegen griff in seinen 24 Préludes für Klavier (1943/44) auf eine Sammlung russischer Volkslieder zurück. Ein solcher Zyklus im Gefolge Frédéric Chopins scheint denkbar entfernt von der Realität der Schlachtfelder. Doch reicht das emotionale Spektrum von der abgründigen Trauer im cis-Moll-Präludium bis zur Vorausschau auf den Sieg im Schlussstück. Dabei kopiert Kabalewski die Melodien nicht einfach, sondern nimmt sie als Grundlage einer konzentrierten motivischen Arbeit. Die Volksmusik ist die Basis des Widerstands, aber es geht nicht ohne eine neue Ebene.
Schostakowitsch war also kein einsamer Großer, sondern Teil der sowjetischen Musik. Dies verkleinert die Bedeutung der Leningrader Sinfonie ebenso wenig wie die der herberen Achten von 1943, die am Ende kaum mehr Kraft zum Zorn zeigt, sondern zwischen Verlöschen und Hoffnung schwankt. Und wie für viele sowjetische Komponisten gilt für Schostakowitsch, dass 1945 der Krieg keineswegs Vergangenheit war, sondern Thema blieb. So schrieb er Filmmusiken etwa für »Der Fall von Berlin« (1949) und »Fünf Tage – Fünf Nächte« (1961) oder auch 1960 das 8. Streichquartett »Zum Gedenken der Opfer von Faschismus und Krieg«.
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