»Wir waren rund um die Uhr im Kampf«
Interview: Margaret Power und Michael Rodríguez MuñizMichael Rodríguez Muñiz: José E. López, wann begannen Sie und andere das Puerto Rican Cultural Center, PRCC, zu organisieren, das dann 1973 eröffnet wurde?
Wir befassten uns seit 1968 mit den Entwicklungen in Lateinamerika, insbesondere mit der Theologie der Befreiung. Wir lasen Werke von Denkern wie Camilo Torres Restrepo in Kolumbien, Gustavo Gutiérrez Merino Díaz in Peru sowie Leonardo Boff und Paulo Freire in Brasilien. Dort hatte sich eine Menge getan. Es gab dann Initiativen, sich in Stadtteilen von Chicago zu organisieren, in denen mein Bruder Oscar (López Rivera, jW) aktiv war. Dort gab es eine Menge Probleme, was uns zu der Frage brachte: »Was tun wir?«
Oscar wurde sehr stark von der Sozial- und Organisationsarbeit der Northwest Community Organization in Chicagos West Town beeinflusst. Er arbeitete auch eng mit Florence Scala zusammen, einer legendären Aktivistin der italienischen Gemeinde von Chicago. Natürlich kämpfte auch die schwarze Gemeinde für die Verbesserung ihrer Lage. Diese Netzwerke und Menschen ergänzten sich gegenseitig in ihrer praktischen Arbeit und unterstützten sich.
Die Initiative für unsere High School war von der Idee der Befreiungstheologie geprägt, dass man über Probleme nicht nur reden sollte. Die Menschen brauchten dringend Lösungen für ihre Probleme, also mussten wir parallele Einrichtungen in der Gemeinde schaffen. In befreiten Gebieten, zum Beispiel in El Salvador während des Bürgerkriegs, schuf die Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN) alternative, also parallele Institutionen, um die Menschen mit dem zu versorgen, was sie vordringlich brauchten, während sie gleichzeitig den Kampf fortsetzte. Durch diesen Prozess erlangten die Unterdrückten ein Stück Selbstverwirklichung und sie erkannten, dass sie in der Lage waren, selbst etwas aufzubauen. In Chile entwickelte das Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) ebenfalls parallele Institutionen. Wir sahen einen Dokumentarfilm, in dem die MIR-Bewegung unter der Allende-Regierung eine Schule übernahm und sich mit dem Bildungsministerium anlegte, weil es sich nicht um das betreffende Elendsviertel in Santiago kümmerte.
M. R. M.: Worauf führen Sie es zurück, dass speziell die Bedürfnisse der puertoricanischen Gemeinde im Mittelpunkt standen?
Auf die massiven Angriffe auf unsere Gemeinden durch die Chicagoer Polizei und auf den Zustand des Bildungssystems. Eine Studie von 1971 über puertoricanische Schulabbrecher, an der ich mitgewirkt hatte, war der Anlass für den Aufbau unserer High School. Die puertoricanische Schuljugend hatte eine Abbrecherquote von fast 72 Prozent. Wir setzten uns für zweisprachigen Unterricht ein, aber das wurde den Bedürfnissen der Kinder noch nicht wirklich gerecht, die sagten: »Die Lehrer hören mich, aber sie verstehen mich nicht.«
Margaret Power: Welche Probleme der Gemeinde führten zur Gründung des PRCC?
Bildung war das vorherrschende Thema. Als ich an meiner ehemaligen Tuley High School einen Kurs zu lateinamerikanischer Geschichte gab, wollten die Schülerinnen und Schüler mehr über die Geschichte Puerto Ricos erfahren. Also fingen wir damit an, und ich traf mich nach dem Unterricht mit den Kindern in einem Gemeinschaftsraum. Zur gleichen Zeit weigerte sich eine Gruppe von Schülern an der Lane Tech High School, die nach meiner Erinnerung das Wahlfach des Ausbildungskorps für Reserveoffiziere (ROTC) besuchten, ihre Uniformen zu tragen (es war die Zeit des Vietnamkriegs; Anm. jW). Sie wurden der Schule verwiesen. Eine andere High School warf ebenfalls eine Gruppe puertoricanischer Schüler mit einem Verweis von der Schule. Daraufhin erteilte ein örtlicher Anwalt den Schülern kostenlose Rechtsberatung. Wir schlossen uns mit dem Anwalt und den Schülern zusammen und gründeten unsere eigene Pedro Albizu Campos High School. Um auch den anderen Bedürfnissen der Schüler gerecht zu werden – Essen, Unterkunft und vieles mehr – gründeten wir neben der Schule die Initiative für das PRCC.
M. R. M.: Wann wurden die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung Puerto Ricos zu einem bestimmenden Prinzip?
Unsere Diskussionen drehten sich von Anfang an um Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Eigenständigkeit. Für mich waren diese Ideen mit dem Begriff der parallelen Institutionen verbunden. Ich habe mich eingehend mit der brasilianischen Geschichte beschäftigt und war fasziniert von den Quilombos, den Maroon-Gesellschaften, die entlaufene Sklaven und indigene Völker während der Kolonialzeit in Brasilien gegründet hatten. Ich hielt es für sinnvoll, parallel zu einem System der Unterdrückung eine Praxis der Freiheit zu entwickeln. Genau das waren die Maroon-Gesellschaften: Gemeinschaften des Widerstands.
M. P.: Spielte das Erbe des Partido Nacionalista de Puerto Rico (PNPR) für Sie in Chicago eine Rolle?
Ja. Ich kannte mindestens zwei Leute, die der Nationalistischen Partei angehörten. Einer von ihnen war ein älterer Genosse, Mitglied der Partei in den 50er Jahren, der die ganze Zeit über im Untergrund geblieben war. Er hat das Buch von Laura Meneses del Carpio über ihren Mann, Pedro Albizu Campos, Präsident des PNPR, neu aufgelegt. Ich lernte ihn kennen. Er verbrachte auch Zeit mit meinem Bruder Oscar. Später fand ich heraus, dass er auch José »Cha Cha« Jiménez von den Young Lords gekannt hatte. Er hatte Kontakt mit uns allen, ohne dass wir es wussten, denn er ging äußerst klandestin vor.
M. R. M.: Was können Sie uns über den Aufstand in der Division Street im Juni 1966 und seine Wirkung auf die puertoricanische Gemeinde in Chicago erzählen?
Der Aufstand hat auf dramatische Weise den Widerspruch zwischen den Puertoricanern und der US-Regierung deutlich gemacht. Ich erinnere mich, dass die Häuser in der Division Street eng an eng standen. Die Leute liefen die Treppen auf der Rückseite hoch, um von den Dächern aus Ziegelsteine auf die Polizei zu werfen. Die Polizisten kamen aber nicht in die Häuser hinein und schossen dann auf die Leute auf den Dächern. Es war Krieg. Oscar, der zu dieser Zeit Soldat in Vietnam war, rief uns zufällig am ersten Tag des Aufstands an. Er hörte die Schießerei und die Kämpfe draußen und fragte, was los sei.
M. P.: Das PRCC war immer wieder Ziel staatlicher Repression. Wann hatten Sie und ihre Genossen erstmals mit dem FBI und anderen Geheimdiensten zu tun?
Meine erste persönliche Erfahrung mit dem FBI machte ich 1972. Ich war nach Puerto Rico gereist, um für meine Dissertation über den puertoricanischen Nationalismus zu recherchieren. Es war mein erster Besuch in Puerto Rico, seit ich es 13 Jahre zuvor verlassen hatte. Ich hatte Kontakt zu Carmen Cancel, der Frau des damals inhaftierten Nationalisten Rafael Cancel Miranda. Ich wohnte in ihrem Haus und kam mit vielen Nationalisten in Kontakt, darunter der Vorsitzende der Nationalistischen Partei Jacinto Pérez Rivera, sein Stellvertreter Julio Pinto Gandia sowie Blanca Canales, eine Veteranin des Aufstands von Jayuya im Jahr 1950. Während meines Besuchs organisierte der PNPR mir zu Ehren eine Versammlung, weil sie so bewegt waren von dem, was wir in Chicago taten. Es waren etwa 40 Personen anwesend, alles Senioren. Durch diese Reise und die Kontakte wurde das FBI erstmals auf mich aufmerksam. Die Agenten kamen an meine Wohnungstür, zückten ihre Dienstmarken und fragten: »Dürfen wir reinkommen?« Ich verneinte, worauf sie antworteten: »Wir wollen Sie nur über ein paar Leute befragen.« Eine Person, über die sie mit mir sprechen wollten, war Juan Mari Bras, der Gründer der Sozialistischen Partei Puerto Ricos und der Zeitung Claridad. »Ich habe nichts mit Ihnen zu besprechen«, sagte ich und schloss die Tür.
M. P.: Was waren die größten Herausforderungen, denen Sie in den ersten Jahren gegenüberstanden?
Wir alle arbeiteten ehrenamtlich und gingen zum Broterwerb verschiedenen Jobs nach, während wir nicht nur die High School organisierten. Wir waren an dem großen Kampf gegen das Elektrizitätswerk Com-Ed für die Einstellung von Puertoricanern beteiligt. Außerdem am Kampf an der Tuley High School, der zur Gründung der Roberto Clemente High School führte. Wir organisierten einen großen Protestmarsch gegen den damaligen Superintendenten der Schulen in Chicago. Wir setzten uns auch dafür ein, die University of Illinois und die Northeastern Illinois University, beide in Chicago, für puertoricanische und lateinamerikanische Studierende zu öffnen. Wir waren rund um die Uhr im Kampf.
M. R. M.: Was war die wichtigste Kontinuität Ihrer Arbeit im Laufe der Jahrzehnte?
Das Wichtigste an unserer Arbeit war die tiefe Verwurzelung in der Gemeinde. Wenn uns irgend etwas vor der Repression bewahrt hat, dann die Tatsache, dass wir in der Lage waren, die puertoricanische Bevölkerung zu begeistern. Zum Beispiel organisierten wir 1979 einen Empfang für die politischen Gefangenen – Lolita Lebrón, Rafael Cancel Miranda, Andres Cordero, Rafael Cancel Miranda und Irving Flores – unmittelbar nachdem sie von US-Präsident James Carter begnadigt worden waren. Wir erwarteten zu ihrer Begrüßung etwa tausend Leute. Als wir mit den Nationalisten in einem Kleinbus durch die Straßen fuhren, begleiteten uns etwa hundert Leute neben dem Bus. Aber nach einer Weile hatten sich so viele begeisterte Menschen der Begrüßungskarawane angeschlossen, dass wir den Motor abstellten und der Bus »mit der Kraft des Volkes« geschoben wurde. Die Chicago Sun-Times münzte die Begeisterung der puertoricanischen Bevölkerung am nächsten Tag in die angebliche »Unterstützung für die Fuerzas Armadas de Liberación Nacional Puertorriqueña (FALN)« um, die klandestin gegen das System kämpfte.
M. R. M.: Welche Lehren ziehen Sie aus der Geschichte und dem Kampf für Puerto Rico und die puertoricanische Diaspora?
Bei meinem Studium der antikolonialen Bewegungen in aller Welt habe ich früh gelernt, dass viele von ihnen von ihrer Diaspora unterstützt wurden. Ohne die irische Bevölkerung in den USA gäbe es keine irische Bewegung zur Lösung der Nordirlandfrage. Wir aus der puertoricanischen Diaspora in den USA haben uns in den letzten 50 Jahren an allen sozialen Kämpfen in Puerto Rico aktiv beteiligt, egal ob es um den Kampf gegen die petrochemische Industrie, die Bergbauindustrie oder den Bau einer Gaspipeline durch Puerto Rico ging. Wir haben mit dafür gekämpft, dass das US-Militär von den Nebeninseln Culebra und Vieques abgezogen wurde. Wir haben uns für die heldenhaften Bewohner von Villa Sin Miedo (Dorf ohne Angst; jW) eingesetzt, die sich in den 80er Jahren dagegen wehrten, dass ihnen brachliegendes Gemeindeland, das sie besetzt hatten, wieder abgenommen wurde. Wir leisteten Widerstand gegen die politische Repression auf allen Ebenen, gegen die Verhängung politischer Beugehaft zur Aussageerpressung durch die Grand Jury, gegen politische Haft, gegen Attentate auf unsere Leute. Das gehörte zu unserem alltäglichen Kampf. Nach dem Hurrikan »María« 2017 war unsere puertoricanische Gemeinde in Chicago die erste, die ein Flugzeug charterte und in fünf verwüsteten Ortschaften Puerto Ricos Soforthilfe leistete.
Dies zeigt, dass die Puertoricaner in den USA ein zentraler Bestandteil des antikolonialen Kampfes für ihr Heimatland sind. Letztendlich kann es kein freies Puerto Rico geben ohne die volle Unterstützung der puertoricanischen Diaspora und die Verknüpfung der Kämpfe hier in den USA mit dem Kampf in Puerto Rico. In den letzten 15 Jahren haben wir unsere jährliche »Fiesta Boricua« jeweils einer Stadt in Puerto Rico gewidmet. Das hat zu einer größeren Verbundenheit mit Puerto Rico und seinem kulturellen Schaffen sowie mit den Bedürfnissen des puertoricanischen Volkes geführt.
M. R. M.: Was denken Sie über die Zukunft der puertoricanischen Unabhängigkeitsbewegung?
Die Unabhängigkeitsbewegung befindet sich in ihrer stärksten Phase, wie die letzte Wahl gezeigt hat. Eine überwältigende Zahl von Puertoricanern hat beim Referendum 2024 dagegen gestimmt, aus Puerto Rico einen US-Bundesstaat zu machen. Es gibt eine ganz neue Generation junger Puertoricaner, die zum Wesen unseres puertoricanischen Daseins stehen und es in die Zukunft projizieren, wie es der Rapper Bad Bunny und andere Musiker und bildende Künstler tun.
Als Nation, die darum kämpft, ihren Platz unter den Nationen der Welt einzunehmen, sind wir zur Solidarität verpflichtet. Uns geht es nicht nur um die puertoricanische Sache, sondern auch um Solidarität mit Palästina, Eritrea, Iran, unseren Compañeros in der Chicano-Mexicano-Bewegung, mit der afroamerikanischen Bewegung und mit den indigenen Völkern. Wir waren in all diesen Kämpfen präsent und werden dies auch weiterhin tun. Ein souveränes Puerto Rico wird sicherstellen, dass wir eine bessere Welt für die Menschheit schaffen. Ich betrachte das, was heute in Puerto Rico geschieht, und was wir hier in Chicago tun, auf der Basis dessen, was der zapatistische Subcomandante Marcos in seinem Essay »Die sieben losen Teile des globalen Puzzles« so schön ausgedrückt hat. Marcos sagte, das siebte Teil bestehe darin, dass die Widerstandsnester auf der ganzen Welt sich dem Imperium der Geldsäcke entgegenstellen. Genau das tun die Menschen überall in der sogenannten »Dritten Welt«. Die kämpfenden Völker in fast jedem Land der Welt lernen ihre Lektionen, insbesondere die kolonisierten Völker der Welt.
Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Heiser
José E. López ist Leiter des Puerto Rican Cultural Center (PRCC) in Chicago
Steiniger WegNach der Würdigung des PRCC und seiner Person auf dem Pressefest dankte José E. López für die »Ehre, diesen Weg mit so vielen wunderbaren Menschen gemeinsam beschreiten zu können, die Claridad zu einer Realität gemacht haben«.
Das Gespräch mit José E. López führten die Historikerin Margaret Power und der Soziologe Michael Rodríguez Muñiz. Alejandro Molina vom Puerto Rican Cultural Center (PRCC) übertrug das Transkript der Aufnahme ins Englische und verbreitete es am 24. April international. Einen Tag zuvor war das hier gekürzt abgedruckte Interview in der sozialistischen Wochenzeitung Claridad in San Juan, Puerto Rico, veröffentlicht worden. Anlass für das Gespräch war das 50. Pressefest, das Claridad am vergangenen Wochenende feierte. Dort wurden López und das PRCC wegen »ihrer unermüdlichen Arbeit zur Verteidigung der Rechte und Werte der puertoricanischen Diaspora« in den USA gewürdigt.
Dieser Weg war auch für López ein steiniger und gefahrvoller. Wie jW in einem Thema-Artikel am 11. August 2020 berichtete, versuchte die US-Bundespolizei FBI Ende der 1990er Jahre, López durch eine Geheimoperation mittels eines gutbezahlten Agent Provocateur und eines vom FBI beauftragten Sprengstoffanschlags »auszuschalten« und das PRCC und seine gute Sozial- und Bildungsarbeit zu »neutralisieren«. Doch das Komplott scheiterte, weil »die puertoricanische Gemeinde ihren Traum von ihrer Unabhängigkeit nicht aufgibt«. Peurto Rico ist eine seit 1898 vom US-Militär besetzte Inselgruppe; ihr offizieller Status ist der eines »Außengebiets« der USA. Das US-Wahlrecht hat die dortige Bevölkerung nicht. (jh)
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