Gegründet 1947 Sa. / So., 03. / 4. Mai 2025, Nr. 102
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 03.05.2025, Seite 15 / Geschichte
Geschichtspolitik

Kohls Schlussstrich

Im Anschluss an den Besuch von US-Präsident Reagan vor 40 Jahren entspann sich ein Streit um das Geschichtsbild der BRD
Von Ulrich Schneider
15.jpg
Versöhnung über den Gräbern deutscher Soldaten, inklusive Angehörigen der SS ( Bitburg, 5.5.1985)

Heutige Generationen erleben die Geschichtsvergessenheit von Politikern, die glauben, sich aus tagespolitischen Erwägungen über historische Erfahrungen und daraus ergebende Verantwortungen hinwegsetzen zu können. Vor 40 Jahren gab es in der ehemaligen BRD einen heftigen geschichtspolitischen Streit. CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl, der 1982 mit dem ideologischen Anspruch der »geistig-moralischen Wende« angetreten war, versuchte, die Erinnerung an den deutschen Faschismus nicht nur aus dem deutschen Bewusstsein, sondern aus der europäischen Erinnerung zu tilgen. Sein Credo lautete »Versöhnung«, jedoch nicht im Sinne des jüdischen Sprichworts »Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung«, sondern im Sinne von Vergessen-machen der Verbrechen des deutschen Faschismus.

Wie wichtig ihm dieses »Vergessen« war, zeigte sich bereits 1984 im Zusammenhang mit den großen Feierlichkeiten in der Normandie anlässlich des 40 Jahrestages des »Débarquement«, der Eröffnung der Zweiten Front durch die Westalliierten im Juni 1944. In einem Vermerk des Außenamtes für den Außenminister hieß es, es müsse darum gehen, vor allem dem Gastgeber Frankreich, aber auch den eingeladenen Verbündeten deutlich zu machen, dass der Gegner von damals heute ein »geachtetes demokratisches Mitglied der Völkergemeinschaft und insbesondere ein zuverlässiger Partner in der Zehner-Gemeinschaft und ein wichtiger Verbündeter in der Atlantischen Allianz« sei. Da dieses Anliegen weniger erfolgreich war, als sich die deutsche Seite erhofft hatte (Kohl war nicht zu dieser Feier eingeladen worden), war die Bundesregierung gern bereit, das Angebot des französischen Präsidenten François Mitterrand anzunehmen, mit ihm gemeinsam am 22. September 1944 in Verdun der Toten des Ersten Weltkrieges zu gedenken und dort eine »Versöhnung über den Gräbern« zu zelebrieren. Die Bilder vom gemeinsamen Händedruck vor den Kränzen auf dem Soldatenfriedhof gingen mit entsprechenden Medienkommentaren durch die Welt. Der Bundeskanzler schien mit dieser Symbolpolitik sein Ziel erreicht zu haben.

Jagdflieger eingeladen

Tatsächlich ging es Kohl, der als erster christdemokratischer Bundeskanzler für sich in Anspruch nehmen konnte, nicht mit dem NS-Regime verbunden gewesen zu sein – Kohl selbst sprach von der »Gnade der späten Geburt« –, vor allem um das Ziehen eines »Schlussstrichs« unter die NS-Vergangenheit. Das, was die Union und andere Vertreter der Tätergeneration schon in den 1950er und 1960er Jahren erfolglos versucht hatten, schien nun möglich zu sein.

Während die Debatte zum Umgang mit dem 8. Mai 1945 anlässlich des 40. Jahrestages Fahrt aufnahm – antifaschistische Organisationen mobilisierten für Großdemonstrationen, Medien berichteten vielfältig über die letzten Monate des Krieges sowie die Auswirkungen für die Bevölkerung und befragten dazu antifaschistische Zeitzeugen –, bereitete das Bonner Bundeskanzleramt erneut eine symbolische Inszenierung vor, mit der man diesmal mit den US-amerikanischen Verbündeten den »symbolischen Schlussstrich« gemeinsam zu vollziehen gedachte. Für Anfang Mai 1985 war US-Präsident Ronald Reagan zu einem Staatsbesuch in die BRD eingeladen worden, wo dies zelebriert werden sollte.

Bezeichnenderweise lehnte Reagan es ab, die KZ-Gedenkstätte Dachau zu besuchen, obwohl das Lager von US-Truppen 1945 befreit worden war. Statt dessen war der gemeinsame Besuch auf dem Soldatenfriedhof Bitburg vorgesehen. Ende April protestierten SPD und Die Grünen im Deutschen Bundestag gegen diese Inszenierung. Selbst in den USA entwickelte sich Widerstand: 53 US-Senatoren forderten, bei dem Besuch keine Soldaten zu ehren, die für das Hitlerregime gefallen seien. Und das Repräsentantenhaus beschloss am 1. Mai 1985 mit 390 gegen 26 Stimmen, den Präsidenten aufzufordern, den Besuch in Bitburg abzusagen, da auf dem Soldatenfriedhof nur deutsche Militärangehörige darunter auch Tote aus SS-Einheiten, liegen. Von dieser Kritik ließen sich Kohl und Reagan nicht beeindrucken. Mehr noch, sie luden Johannes Steinhoff, einen hochdekorierten Jagdflieger der faschistischen Luftwaffe, der nach dem Krieg auch die Luftwaffe der Bundeswehr aufgebaut hatte und ab September 1970 als Vorsitzender des NATO-Militärausschusses fungierte, zu dieser Zeremonie ein. Wie mit Mitterrand in Verdun fand auch hier eine »Versöhnung über den Gräbern« statt, aber diesmal offenkundig in der Tradition des NS-Regimes und der NATO.

Ungewollt antifaschistisch

Es kam daher nicht überraschend, dass die öffentliche Reaktion auf diese Inszenierung deutlich negativer ausfiel als beim »Händedruck von Verdun«. Jürgen Habermas sprach in diesem Zusammenhang von staatsoffizieller »Entsorgung der Vergangenheit«. Aber es waren nicht nur linke Kritiker, selbst die FAZ und der Spiegel brachten kritische Kommentare, die bemängelten, dass dem Anliegen, einen »Schlussstrich zu ziehen«, geschadet worden sei, weil nun die Diskussion über die faschistische Vergangenheit wieder an Fahrt aufgenommen habe.

Und tatsächlich erlebte die bundesdeutsche Debatte drei Tage später mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Deutschen Bundestag anlässlich des 8. Mai 1945 einen – durchaus ungewollten – Schub in antifaschistische Richtung, wie man es sich nach dem Auftritt der Bundesregierung nur schwer vorstellen konnte.

Wenn man die Rede heute liest, fragt sich der interessierte Lesende, was daran so Besonderes gewesen sei. Tatsächlich lieferte sie keine neuen Erkenntnisse über den Weg in den deutschen Faschismus, keine antifaschistischen Antworten über die Triebkräfte und Unterstützer dieser Terrorherrschaft, selbst bezogen auf das Ausmaß der Verbrechen ging diese Rede nicht unbedingt weit über die historischen Deutungsversuche früherer Politikeransprachen, die insbesondere in der Brandt-Scheel-Regierungszeit zu hören waren, hinaus. Dennoch hat diese Rede an einem entscheidenden Punkt einen Bruch mit dem politischen Narrativ vollzogen: Hier sprach zum ersten Mal ein Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland davon, dass der 8. Mai 1945 der »Tag der Befreiung« gewesen sei – und: Die Ansprache würdigte explizit den kommunistischen Widerstand.

Das löste bei Reaktionären einen Aufschrei des Entsetzens aus. Bis dahin begnügten sich viele Politiker mit der »neutralen« Formulierung »Kriegsende«. Es gab aber noch genügend, die den 8. Mai als »Zusammenbruch« oder als »Katastrophe« – manchmal auch als »deutsche Katastrophe« – bezeichneten. Das konnte von nun an nicht mehr gelten.

Dass damit der geschichtspolitische Revisionismus nicht überwunden war, zeigte sich knapp ein Jahr später: Im Juni 1986 veröffentlichte Ernst Nolte einen Artikel, der die Singularität des Holocaust anzweifelte – ein weiterer Versuch, die »geistig-moralischen Wende« herbeizuführen.

»Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung«

Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.

Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. (…)

Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.

Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.

Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben. (…)

Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten »Geisteskranken«, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mussten. (…)

Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.

(Auszug aus Richard von Weizsäckers Ansprache am 8. Mai 1985 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages)

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Der 2018 verstorbene Ludwig Baumann mit dem 1942 gegen ihn verhä...
    03.04.2024

    Nicht mehr zumutbar

    Geschichtspolitik nach sächsischer Art: Vertretung der Opfer der faschistischen Militärjustiz beendet Zusammenarbeit mit Gedenkstättenstiftung

Mehr aus: Geschichte