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Aus: Ausgabe vom 02.05.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Arbeitskampf in Indien

Generalstreik ist kein Einzelfall

In Indien wird oft gestreikt. Denn die Arbeiter wissen: Wenn sie sich nicht wehren, werden sie vernutzt. Zwei Beispiele
Von Vijay Prashad
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Auch Bauern wehren sich: Hier gegen die fast entschädigungslose Enteignung von ihrem Land (Noida, 2.12.2024)

Eine der verblüffendsten Informationen ist, dass 90 Prozent der indischen Arbeiter nicht im gewerkschaftlich organisierten Sektor arbeiten. Das bedeutet nicht, dass sie außerhalb der Gewerkschaftsstrukturen stehen, sondern nur, dass die meisten Beschäftigten sehr hart kämpfen müssen, um eine Gewerkschaft zu gründen. Es gibt natürlich Gewerkschaften im formellen Sektor, und auch in Berufen, wo eine gewerkschaftliche Organisierung sehr schwer ist. Die Beschäftigten des ländlichen Gesundheitswesens beispielsweise haben nur wenig Kontakt zueinander. Dennoch haben die Accredited Social Health Activists (ASHA), wie sie genannt werden, dafür gekämpft, die beruflich und ländlich bedingten Barrieren zu überwinden und Gewerkschaften zu bilden. Die ASHA-Mitarbeiter werden vom indischen Ministerium für Gesundheit und Familienwohlfahrt im Rahmen der Nationalen Ländlichen Gesundheitsmission eingestellt. Aber anstatt als Angestellte behandelt die indische Regierung sie als »Freiwillige«. So gibt es nach Angaben der indischen Regierung über eine Million ASHA-Freiwillige in Indien, was diese Gruppe zur größten Freiwilligengruppe der Welt macht. Und als Freiwillige haben sie keinen Anspruch auf Tarifverhandlungen oder Gewerkschaftsrechte.

Die National Rural Health Mission zeigt, dass die Müttersterblichkeitsrate um 83 Prozent und die Säuglingssterblichkeitsrate um 69 Prozent gesunken ist, seitdem die ASHA im Jahr 2013 ihre Arbeit aufgenommen haben. Alle Studien zur ländlichen Gesundheit in den vergangenen zehn Jahren zeigen, dass der Grund für die Verbesserungen die Arbeit der ASHA ist. Als Freiwillige erhalten sie jedoch weder den Mindestlohn noch notwendige Leistungen wie Mutterschaftsurlaub.

In den vergangenen fünf Jahren haben sich die ASHA gegen alle Widerstände in der ASHA Workers and Facilitators Federation of India (AWFFI) organisiert, die dem Centre of Indian Trade Unions (CITU), dem Gewerkschaftsverband der Kommunistischen Partei Indiens, angeschlossen ist. Auf einem Kongress am 20. April verpflichteten sich die ASHA, im August einen mehrtägigen landesweiten Streik durchzuführen. Zuvor war jedoch die gemeinsame Plattform der Gewerkschaften in Delhi zusammengekommen und hatte für den 20. Mai 2025 einen landesweiten Generalstreik für höhere Mindestlöhne und feste Arbeitszeiten sowie für eine Rücknahme der arbeiterfeindlichen Politik der Regierung angekündigt.

Der Generalstreik ist kein Einzelfall. Seit 1991 haben die indischen Gewerkschaften mindestens vierundzwanzigmal einen Generalstreik durchgeführt. In den vergangenen Jahren haben sich über 250 Millionen indische Beschäftigte an diesen Streiks beteiligt. Die Forderungen sind vielfältig, aber im wesentlichen geht es um die Verteidigung des Arbeitsrechts und um höhere Löhne.

Dafür wird im Alltag immer wieder gestreikt. Erst kürzlich legten die Beschäftigten in einem Samsung-Werk im Bundesstaat Tamil Nadu für 50 Tage die Arbeit nieder. Eine Reihe von städtischen und ländlichen Gewerkschaften unterstützten den Ausstand. Das Ergebnis: Die Manager akzeptierten die gewerkschaftliche Organisierung von 1.350 der 1.850 Beschäftigten des Werks. Das ist erst das zweite Mal, dass Samsung eine Gewerkschaft in einer seiner Fabriken zulässt. Nach Abschluss der Arbeitsniederlegungen stellte die wichtigste Zeitung von Tamil Nadu fest, dass dieser Bundesstaat mit 26 Prozent zwar die meisten (erfassten) Fabriken indienweit hat, davon aber nur 16 Prozent in indischer Hand seien. Durch die Arbeitsniederlegungen haben die Kapitalisten 15 Prozent der Arbeitstage verloren.

Dennoch, Tamil Nadu ist einer der am stärksten industrialisierten Bundesstaaten des Landes und hat einen der höchsten Anteile an den Bruttoinvestitionen in Indien. Streiks zwingen das Kapital nicht zur Flucht, wenn es festgestellt hat, dass die Produktivität der Arbeitskräfte in der Region hoch ist. Das bedeutet: Die Beschäftigten haben trotz prekärer Arbeitsbedingungen weiterhin die Möglichkeit, zu streiken – und zu gewinnen. Die Arbeiter in Indien wissen, wenn sie nicht kämpfen, werden sie vernutzt. Deshalb waren sie auch wieder millionenfach am 1. Mai auf der Straße.

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