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Aus: Ausgabe vom 02.05.2025, Seite 2 / Inland
80 Jahre Befreiung vom Faschismus

»Er ist auch mit kapitalistischen Staaten möglich«

Berlin: Initiative will am 3. Mai Befreiern vom Faschismus danken und wirbt für Frieden mit Russland. Ein Gespräch mit Christiane Reymann
Interview: Marc Bebenroth
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Schon im vergangenen Jahr waren die Auflagen für Danksagungen in Berlin strikt: Sowjetisches Ehrenmal am Berliner Tiergarten (9.5.2024)

Die »Initiative 8. Mai« widmet sich der Würdigung der Befreiung Deutschlands vom Faschismus vor 80 Jahren. Warum haben Sie sich für Ihre Kundgebung beim Sowjetischen Ehrenmal am Berliner Tiergarten den 3. Mai ausgesucht?

Am 8. Mai finden traditionell ganz wichtige und tolle Veranstaltungen statt, in vielen Klein- und Mittelstädten sowie die Veranstaltungen in Berlin. Da wollten wir auf keinen Fall irgendwie ins Gehege kommen. Deshalb haben wir uns für den 3. Mai und das Herz von Berlin entschieden, wo wir mit Blick auf Reichstag und Brandenburger Tor laut Danke sagen wollen.

An welche Auflagen müssen Sie sich halten?

Wir erwartet ist das Tragen des Sankt-Georgs-Bands ausschließlich Veteranen erlaubt. Pro 25 Teilnehmer darf eine russische bzw. sowjetische Fahne gezeigt werden. Insgesamt bleiben die Auflagen eine Sauerei. Aber wir werden davon nicht unsere Veranstaltung abhängig machen.

Sie haben Redebeiträge sowie Videobotschaften angekündigt. Wer wird zu hören sein?

Wir kriegen unter anderem eine Videobotschaft aus Wolgograd, ehemals Stalingrad, und eine von Ljudmilla Sirota, der 95jährigen Überlebenden der Leningrader Blockade durch die deutschen Truppen. Die beiden Städte stehen für diesen grausamen Überfall sowie die spätere Befreiung. Eine Grußbotschaft des Vizeleiters des Europainstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften gibt es ebenfalls. Und mit Egon Krenz wird der letzte Repräsentant des einzigen deutschen Staates reden, dessen Armee nie Krieg geführt hat.

In einer Handreichung gibt das Auswärtige Amt Veranstaltern zu verstehen, russische und belarussische Vertreter nicht einzuladen. Warum bezeichnen Sie das als rassistisch und sprechen von Russenhass?

Das ist rassistisch, weil es an den uralten Antislawismus anknüpft. Russenhass wird hier dadurch geschürt, dass man Vertreter des Nachfolgestaates der Sowjetunion und auch den weißrussischen Botschafter explizit ausschließt. Das ist eine Form von mindestens Geringschätzung, eher Feindseligkeit – ohne Feind keine Aufrüstung.

Sie werben für »gute Nachbarschaft« mit dem heutigen Russland. Was hat das aus Ihrer Sicht mit den Leistungen und großen Opfern der Sowjetunion, der sowjetischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg zu tun?

Wenn wir über das Verhältnis zu Russland oder Weißrussland reden, ohne den rassistischen Vernichtungs- und Versklavungskrieg, der von Deutschland ausgegangen ist, im Hinterkopf, dann handeln wir nicht verantwortungsbewusst. Jetzt werden wir wieder in eine Phase der Hochrüstung und Feindschaft geleitet. Dabei ist ein gutes Verhältnis zu Russland konstitutiv für eine europäische Friedensordnung. Im Kalten Krieg zwischen NATO und Sowjetunion gab es Hochrüstung und ständige Spannungen. Als endlich im Helsinki-Prozess ein neuer Weg beschritten wurde, war Abrüstung möglich. Vereinbarungen wurden geschlossen, Handel und gegenseitiger Austausch aufgenommen.

Wie stellen Sie sich einen ähnlichen Prozess vor mit kapitalistischen EU-Staaten und einem kapitalistischen Russland in verschärfter Konkurrenz um Rohstoffe, Handelsrouten und Marktanteile?

Selbstredend gibt es widerstreitende Interessen zwischen imperialistischen Zentren – wobei man diskutieren kann, welchen Charakter Russland hat. Frieden ist auch zwischen kapitalistischen Staaten möglich – bei latenter Kriegsgefahr im Rahmen imperialistischer Konkurrenz. Aber die muss man versuchen zu neutralisieren: durch Abkommen, durch Diplomatie, durch ein gegenseitig vorteilhaftes Verhältnis.

Welche Bedingungen müssten dafür erfüllt sein?

Die Sicherheitsinteressen eines jeden Staates müssten berücksichtigt werden. Das steht so auch im Zwei-plus-vier-Vertrag, der die Grundlage der deutschen Einheit war. Zweitens muss man sich im Klaren darüber werden, welche Vorteile viele Staaten durch Rüstungskontrolle und Abrüstung hätten.

Privatunternehmen hätten große Nachteile.

Der Rüstungssektor hätte dadurch Nachteile, ja. Das nützt dem Frieden. Aber das Kapital war immer schon erfinderisch, wenn es um neue Profitquellen geht.

Christiane Reymann ist Mitorganisatorin der »Initiative 8. Mai«

Kundgebung: Sa., ab 14 Uhr, Straße des 17. Juni, Sowjetisches Ehrenmal Tiergarten

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  • Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (2. Mai 2025 um 02:58 Uhr)
    Hmmm, kapitalistische Staaten und Frieden? Das scheint mir auch unter Berücksichtigung der hier gemachten Überlegungen sehr naiv. Denn das kapitalistische System kann mittel- und langfristig ohne Krieg gar nicht aufrechterhalten werden. Krieg liegt sozusagen in der Natur des Kapitalismus. Frieden funktioniert nur über eine gewisse Zeit hinweg oder als Zweckbündnis zwischen »imperialistischen Zentren«, um machtvoller Krieg gegen andere Zentren führen zu können. Es stimmt zwar, dass Kapitalisten erfinderisch sind, wenn es um die Erschließung von neuen Profitquellen geht. Nur hat auch dies systembedingt seine Grenzen: Irgendwann ist alles ausgeschöpft, die »Tendenz der fallenden Profitraten« schlägt unerbittlich zu. Und jeder »gute« Kapitalist weiß, dass durch längere Wachstumsstagnation – hier auch relevantes Stichwort: »unendliches Wachstum mit endlichen Ressourcen« – das System kollabiert und damit sein von den Arbeitenden abgezocktes Vermögen vernichtet wird. Ergo bleibt dann nur die letzte mögliche Profitquelle, um wieder Wirtschaftswachstum zu generieren und sich vor den beraubten Arbeitenden zu schützen: Anderen Kapitalisten ihr Kapital gewaltsam nehmen. Was denen wiederum völlig klar und gar nicht lieb ist, weswegen sie selbstverständlich ebenfalls entsprechende militaristische Optionen ausschöpfen und möglichst schlagkräftige Armeen aus dem abgezockten Mehrwert finanzieren. Daher: Kapitalismus führt immer zu Krieg, früher oder später. Und nebenbei bemerkt: Kriege lassen sich am effizientesten mittels faschistischer Regierungsformen führen, weshalb Kapitalismus – zum Zwecke der Kriegsführung – auch beinahe zwangsläufig in den Faschismus in der einen oder anderen Form führt. Früher oder später.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (2. Mai 2025 um 02:40 Uhr)
    »Pro 25 Teilnehmer darf eine russische bzw. sowjetische Fahne gezeigt werden.« Bei Zuteilungen für Russen zeigte Deutschland schon immer Ordnungssinn und Organisationstalent. Aber wenn wir schon auf diese Weise an den Zweiten Weltkrieg erinnern, würde ich vorschlagen, nur für 125 Teilnehmer eine Fahne zuzulassen. 125 Gramm betrug nämlich die Brotration eines Rentners bei der Blockade Leningrands (geschätzt ein Million Tote, davon ca. 90 Prozent wegen Hunger).

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