Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 03.01.2025, Seite 10 / Feuilleton
Nazidiktatur

»Erinnerungspolitisch gibt es noch viel zu tun«

Eine längst überfällige Ausstellung in Berlin widmet sich verleugneten Opfern der Nazidiktatur. Ein Gespräch mit Barbara Stellbrink-Kesy
Von Sabine Lueken
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Bilder einer wichtigen Ausstellung: »Die Verleugneten«

Wer waren die »Verleugneten«?

Es waren Menschen, die als »gemeinschaftsfremd« galten, als »minderwertig«, oft randständig, in Armut lebend und deklassiert. Menschen, die anders als die Mehrheit lebten, heute etwa als queer verstanden werden, Frauen, die als sexuell freizügig galten. Wer dreimal gestohlen hatte, und sei es nur ein Butterbrot, konnte als »Berufsverbrecher« abgestempelt werden. Ihnen allen wurde unterstellt, nicht genug zu arbeiten, sie sollten aus der »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen werden. Ihre Verfolgungsschicksale sind ein blinder Fleck im kollektiven Gedächtnis. Für die Nachkommen, die die überwiegende Zahl der Mitglieder im Verein Vevon darstellen, ist das ein unerträglicher Zustand.

Wie kam es zu der Ausstellung?

Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas hatte bereits 2009 ein Ausstellungskonzept erarbeitet, aber es gab keine finanzielle Unterstützung. Die Anerkennung durch den Bundestagsbeschluss vom 13. Februar 2020 ist daher vor allem der zivilgesellschaftlichen Initiative zu verdanken. Die Stiftung war jetzt wohl selbst überrascht vom Interesse der vielen jungen Teilnehmerinnen an der Eröffnungsveranstaltung, die der vorgesehene Saal gar nicht fassen konnte. Aber das ist nur ein erster Schritt.

Welche Parallelen gibt es zur Gegenwart?

Unter dem Einfluss der Erfolge der AfD sind die großen Parteien den Populisten bereits mit fliegenden Fahnen entgegengeeilt, haben die alten Hebel bedient, als Reaktion auf Ängste in der Bevölkerung Sündenböcke zu schaffen, zu spalten und Hass zu schüren. Arme Menschen für Finanzprobleme der Bundesregierung verantwortlich zu machen, zeigt, wieviel vom Denken der NS-Zeit in den Köpfen weiter existiert. Der Begriff »arbeitsscheu« schwingt in den Reden vom »Fördern und Fordern« immer mit. Das Verhältnis zur Arbeit war eine zentrale Kategorie bei der Ausgrenzung damals.

Weshalb haben Sie Vevon gegründet?

Die Mitglieder wollen »von unten« arbeiten, die eigene Geschichte freilegen, aber auch in die Gesellschaft hinein wirken. In der Bevölkerung denken viele, erinnerungspolitisch sei alles getan. Wer selbst aktiv ist, weiß, dass der Eindruck täuscht. Bis heute ist kein Forschungsetat für die »Verleugneten« aufgestellt. So ist auch der stagnierende Stand der Aufarbeitung von NS-Medizinverbrechen zu erklären. Er nimmt hauptsächlich Bezug auf Menschen mit Behinderungen, stellt die heute angeblich gelungene Inklusion heraus. Das geht einher mit einer unterkomplexen Darstellung von komplexen Zusammenhängen, z. B. auf der Webseite gedenkort-T4.eu. Nicht verwunderlich, wenn man sich die Sponsoren der Seite anschaut, die damit ihr Image pflegen. Aufarbeitung ist ja nicht frei von Interessen. Damalige »Pfleglinge« waren viel »diverser«, Überschneidungsbereiche mit den Gruppen, die in den KZ die grünen und schwarzen Winkel tragen mussten, werden nicht abgebildet. Das Argument, die Darstellung müsse vereinfacht werden, lasse ich nicht gelten. Ich komme von der Kunst, die hat von jeher auf verdrängtes Wissen aufmerksam gemacht und dazu Mittel gefunden. Mit solchen Verzerrungen wird es immer schwieriger, die Kontinuitäten von Haltungen und Einstellungen zu erkennen, besonders dort, wo kaum Wissen in der Gesellschaft angekommen ist.

Wird sich der Verband auch mit dem heutigen Umgang mit Ausgegrenzten beschäftigen?

Für mich ist es selbstverständlich, das Anliegen des Erinnerns mit der Gegenwart zu verbinden. Ob sich das auch im Verein durchsetzen wird, ist noch offen. Vorschnell Parallelen zur Gegenwart zu ziehen, scheint mir problematisch, wenn die Vergangenheit noch gar nicht in der Tiefe erforscht ist, wie es bei den »Verleugneten« der Fall ist. Der Verein fordert zu Recht ein Mahnmal im zentralen Berliner »Erinnerungsparcour«, ebenso einen Forschungsetat nicht nur auf dem Papier. Wie unsere Chancen stehen, als Verband unter den gegenwärtigen Umständen zukünftig den nötigen Druck zu erzeugen, wird sich zeigen. Wir sind eine Gruppe, die aus ausgesprochen beharrlichen Menschen besteht.

Barbara Stellbrink-Kesy ist Kunsttherapeutin und Autorin von »Unerhörte Geschichte: Frei – aber verpönt« (Verlag am Turm, 2020), einer Biographie über ihre Großtante, die Opfer der Medizinverbrechen der Nazis wurde. Stellbrink-Kesy ist Gründungsmitglied des »Verbands für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus« (Vevon)

»Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933–1945–heute«, B. Place, Cora-Berliner-Str. 2, 10117 Berlin, bis 31. Januar 2025

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  • Leserbrief von Gerd-Rolf Rosenberger aus Bremen (6. Januar 2025 um 12:36 Uhr)
    Beim Martinsclub Bremen tätig, der sich engagiert um Namen und Gesichter der Stolpersteine kümmert, wurde auch in Bremen-Nord ein Besuch bei drei verleugneten Opfern des Nazifaschismus durchgeführt. 10 beeinträchtigte Menschen nahmen dran teil, ein leitender Mitarbeiter des Martinshofes OHZ war auch dabei. Diedrich Gereke war Epileptiker. Aufgrund seiner Erkrankung verlor er immer wieder seine Arbeitsstelle. Im Zuge der Aktion »Arbeitsscheu Reich« wurde er 1938 verhaftet und in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Dort wurde er kurz vor Heiligabend 1938 ermordet.
    Dr. phil. Martin Meiners unterrichtete an Gymnasien Französisch, Englisch, Deutsch und Latein. Über 30 Jahre litt er an einem »Hirnleiden«, dies führte zur vorzeitigen Pensionierung und Entmündigung. Der Philologe war in verschiedensten Nervenkliniken, Naziärzte verlegten ihn in die Tötungsanstalt Hadamar, wo ihn die Naziverbrecher verhungern ließen.
    Bei der kirchlich engagierten Gruppenleiterin Gesine Vielstich entwickelte sich nach der OP vermutlich als Folge der Narkose eine »Psychose«. In die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg eingeliefert, wollte Gesine immer wieder endlich nach Hause. Dieses so menschliche Ansinnen wurde immer abgelehnt. Die Faschisten nannten es »Geheime Reichssache«, ermordet wurde Gesine Vielstich am 25. Juli 1941.
    Ist KPD Mann Karl Wastl nicht auch ein verleugnetes Opfer des Nazifaschismus? Sieben Jahre inhaftiert in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Mauthausen, rettete er Rotarmisten vor dem Verhungern, indem er mit anderen zusammen Brotkrumen mit Rotarmisten teilte. Bis kurz vor seinem Tod 1963 wartete er auf Entschädigung, die ihn nach 18 Jahren endlich bewilligt wurde

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