Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
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Aus: Ausgabe vom 14.10.2024, Seite 12 / Thema
Immobilienmarkt

Im Namen des Herrn

Kirchliche Immobilienunternehmen behaupten von sich, besonders sozial zu sein. Ein Blick auf Berlin zeigt das Gegenteil
Von Ralf Hutter
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Die Umsetzung des Volksentscheids würde auch die Hilfswerk-Siedlung treffen (Berlin, 25.3.2023)

Der Kampf um die Häuser von Berlins elf oder zwölf größten Wohnungsunternehmen schwelt weiter. Vor einem Jahr kündigte die Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« an, einen Gesetzentwurf für einen Volksentscheid zur Vergesellschaftung der Häuser von Unternehmen, denen in der Hauptstadt mehr als 3.000 Wohnungen gehören, zu erarbeiten. Denn der im September 2021 gewonnene Volksentscheid zum selben Thema beinhaltete kein Gesetz, sondern war nur ein Appell an den Berliner Senat. Unter diesen großen Wohnungsunternehmen sind relativ bekannte und berüchtigte, aber auch weitgehend unbekannte. Eines hat dabei eine besondere Stellung inne: die Hilfswerk-Siedlung GmbH (HWS), die im wesentlichen der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg gehört. Über dieses Unternehmen ist der breiten Öffentlichkeit kaum etwas bekannt, doch es genießt einen eher guten Ruf.

Als 2019 die Stellungnahme des Berliner Senats zur Volksinitiative von »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« bekannt wurde, gab es den einen oder anderen Aufschrei, denn es stellte sich heraus, dass auch die HWS betroffen wäre. »Initiative will die Evangelische Kirche in Berlin enteignen«, titelte die Berliner Morgenpost, zitierte dann aber im dazugehörigen Artikel ein Dementi der Volksinitiative. So geht Schmierenjournalismus. Die Deutsche Presseagentur zitierte besagtes Dementi ebenfalls und zusätzlich die Wohnungspolitikexpertin der damals noch an der Landesregierung beteiligten Partei Die Linke, Gaby Gottwald, mit der Forderung: »Diese Gesellschaft gehört nicht auf die Liste.« 2020 berichtete die Berliner Zeitung von »Verwunderung und Protesten« angesichts der Gefahr für das evangelische Wohnungsunternehmen und schrieb mit Bezug auf eine Aussage des Geschäftsführers Jörn von der Lieth: »Die Fraktionsvorsitzenden der Koalition hätten bereits schriftlich bestätigt, dass eine Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen der HWS selbstverständlich nicht zur Debatte stehe, beziehungsweise dass die Hilfswerksiedlung bereits eine Form der Gemeinwirtschaft ausübe und daher nicht vom Gesetz erfasst werden darf.« Ein Sprecher des Volksbegehrens schrieb noch im Februar 2021 auf Twitter: »Wir haben uns längst mit der Hilfswerk-Siedlung verständigt.«

Nur einen Cent drunter

Die unterwürfige Haltung der Initiative und der Linkspartei gegenüber dem kirchlichen Unternehmen ist schon angesichts einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung seltsam. Sie war 2019 gleich nach dem Bekanntwerden der potentiell von der Enteignung betroffenen Unternehmen erarbeitet worden. Dort ist nämlich zu lesen, dass die durchschnittliche Quadratmetermiete der HWS 2017 nur einen Cent unter dem Wert der unbeliebten, um nicht zu sagen verhassten, Deutsche Wohnen lag. Und die jährliche Mietsteigerung in den Jahren 2012 bis 2017 betrug demnach bei Deutsche Wohnen durchschnittlich 2,9 Prozent, bei der HWS sogar 3,8 Prozent. Deutschlands größtes Wohnungsunternehmen Vonovia und die ebenfalls große TAG hatten in beiden Kategorien noch niedrigere Werte als Deutsche Wohnen. Das christliche Wohnungsunternehmen ist dennoch jahrzehntelang unter dem Radar einer größeren Öffentlichkeit geblieben. Noch im Geschäftsbericht für 2023 bezeichnete es sich als »ein Schlüsselakteur in der sozialen Wohnungswirtschaft in der Bundeshauptstadt und darüber hinaus«. Erst in den vergangenen Jahren wird punktuell Kritik an ihm bekannt.

So berichtete das Mietermagazin des Berliner Mietervereins im September 2023 über die HWS und bezeichnete sie aufgrund der Erfahrungen einer Vereinsanwältin als »ziemlich bärbeißig und unnachgiebig«. In dem Artikel wird ausgeführt: »Eine Sozialwohnung in Spandau wurde kürzlich für 11,12 Euro nettokalt angeboten. Auf die Frage, welche einkommensschwachen Haushalte sich das leisten können – für den Bezug ist ein Wohnberechtigungsschein erforderlich –, antwortet das evangelische Wohnungsunternehmen, dass die Miete exakt der Wirtschaftlichkeitsberechnung im sozialen Wohnungsbau entspricht. Im Einzelfall sei man aber bereit, die Miete zu senken.«

So erwirtschaftet die Hilfswerk-Siedlung Jahr um Jahr Überschüsse in Millionenhöhe, die sie nicht an die Eigentümer ausschüttet, sondern anspart. Im Geschäftsbericht für 2022 wird Marco Nadig, Abteilungsleiter Rechnungswesen und Finanzen, folgendermaßen zitiert: »Bis vor ungefähr 20 Jahren hatten wir faktisch ein Negativeigenkapital von etwa 30 Millionen Euro. Doch dann wendete sich das Blatt, als es uns gelang, die HWS so zu entwickeln, dass sie heute ein Eigenkapital von rund 70 Millionen Euro aufweist.« In 20 Jahren 100 Millionen Euro angespart – mit diesem Geld hätte auf dem immer angespannteren Berliner Wohnungsmarkt, auf dem sich die große Mehrzahl der HWS-Wohnungen befindet, wohl sinnvolleres gemacht werden können. Ende 2023 betrug das Eigenkapital bereits 77 Millionen Euro, und es soll weiter wachsen, wie im Geschäftsbericht vermerkt ist.

Horrende Nachzahlungen

Schon allein diese Zahlen wecken Zweifel daran, dass die HWS ein Unternehmen ist, das in Sachen Enteignung eine Ausnahme, sozusagen die Anwendung einer Sozialklausel, verdient. Im südwestlichen Berliner Stadtteil Zehlendorf hat das Verhalten des Unternehmens zuletzt Zweifel an dessen angeblich sozialem Charakter verstärkt. Einem Bericht der Abendschau des Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) vom Januar zufolge, hat die HWS einem Teil seiner dortigen Siedlung mit 800 Wohnungen sozusagen eine unfreiwillige Börsenspekulation zugemutet. Es hatte nämlich die Heizungsversorgung einem Unternehmen überantwortet, das den Gaspreis an den Börsenkurs koppelte. Die Folge waren horrende Nachzahlungen für 2022. Eine betroffene Person gab gegenüber junge Welt an, dass mehrere Haushalte mit Wohnungsgrößen um die 50 Quadratmeter über 1.600 Euro, zum Teil sogar über 2.000 Euro nachzahlen mussten. Im RBB-Video werden ähnliche Werte genannt, wobei es in anderen Häusern der Siedlung laut einer Mieterin nur etwas über 100 Euro gewesen seien.

Bei traditionell arbeitenden Energieversorgern besteht ein gewisser Schutz vor extrem hohen Nachzahlungen, denn sie kaufen einen Teil – eventuell einen großen Teil – des Stroms oder Gases lange im voraus. Gibt es an der Börse einen Preissprung für kurzfristige Lieferungen, betrifft das dann nur einen (relativ) kleinen Teil der Energie, der an die Kundschaft weiterverkauft wird. Der Tarif erhöht sich dadurch nur gering. Je länger im voraus diese Firmen die Energie beschaffen, desto länger können sie eine Phase mit hohen Kurzfristpreisen überstehen. Andere Unternehmen hingegen setzen auf kurzfristige, billige Preise und kaufen (sehr) wenig Strom oder Gas im voraus ein. Sie gerieten wegen der starken Verteuerung von Strom und Gas ab Herbst 2021 in fundamentale Schwierigkeiten, weil sie in Lieferverträgen zu Tarifen steckten, die viel billiger waren als der kurzfristige Börsenpreis. Zum Teil reagierten sie darauf mit illegalen Vertragskündigungen oder Preiserhöhungen in laufenden Verträgen. Sich in starke Abhängigkeit von den Preisen an den Großhandelsmärkten zu begeben, ist faktisch eine Börsenspekulation, die sicherlich sehr viele Menschen ablehnen, weil sie das Risiko gar nicht abschätzen können. Die HWS hingegen zwang viele und vor allem wenig betuchte Menschen in diesen kleinen Wohnungen in die komplette Abhängigkeit vom Börsenkurs.

Eine Mieterin erzählte in der Sendung, dass die Bewirtschaftung der Siedlung seit Jahren stark zu wünschen übrig lasse. Zum Beispiel seien die Hausmeister weggespart und nicht adäquat ersetzt worden. Ein Rohrbruch habe den ganzen Keller tagelang unter Wasser gesetzt, Fäkalien inklusive. Auf Beschwerden der Mieterschaft werde schlecht reagiert. »Wir sind entsetzt über dieses christliche Wohnungsunternehmen«, hielt die Mieterin fest. »Die HWS ist ein Unternehmen wie jedes andere.«

Lebensabend mit Sozialabbau

Zu welcher strukturellen Rücksichtslosigkeit das Unternehmen in der Lage ist, zeigt sich seit Jahren im nördlichen Stadtteil Wedding. Dort ist sogar eine besonders schutzbedürftige Bevölkerungsgruppe betroffen, denn es handelt sich um eine Seniorenwohnsiedlung. Das baulich relativ geschlossene Ensemble von fünf großen Gebäuden unterschiedlichen Alters an der Ecke Reinickendorfer und Osloer Straße gehört der Stiftung Hospitäler zum Heiligen Geist und St. Georg. Die kleine, aber angeblich älteste Stiftung Berlins soll laut Satzung hier »bedürftigen älteren Mitbürgern einen angenehmen Lebensabend sichern« und »in ihrem Zeugnis und ihrem Handeln Wesens- und Lebensäußerung der Kirche Jesu Christi sein und Gottes Barmherzigkeit den Menschen durch Wort und Tat weitergeben«. Sie ist durch ihre Satzung an die evangelische Kirche gebunden und Mitglied in deren Diakonischem Werk. Die Wohnanlage ist ihr einziger Existenzzweck. Rund 440 Wohnungen für alte Menschen gibt es hier, zusätzlich rund 50 für Familien. Die HWS ist für die Hausverwaltung verantwortlich.

Der Vorsitzende des vierköpfigen und nur nebenberuflich arbeitenden Stiftungsvorstands ist Martin Kirchner, bis Juli 2024 Superintendent – also Leiter – des evangelischen Kirchenkreises Berlin-Nordost. Was der Kirchenfunktionär mit seiner kirchennahen Stiftung und der kircheneigenen Hausverwaltung in dieser Wohnanlage trieb, spottet aber jeder kirchlichen Propaganda. Seit Jahren ächzt die zum Teil hochbetagte und körperlich eingeschränkte Bewohnerschaft unter den sich mehr oder weniger stetig verschlechternden Lebensbedingungen. Die meisten Probleme lassen sich mit dem Begriff »Sozialabbau« zusammenfassen. Nicht zufällig spielte sich dieser hier im kleinen parallel zum Niedergang von Berlins sozialer Infrastruktur seit der Jahrtausendwende ab, als der Berliner Bankenskandal riesige Geldsummen aus dem Landeshaushalt riss. Bei der Stiftung versiegte damals der Geldfluss vom Senat. So entfielen Betreuungsangebote in der Wohnanlage. Das traf auch die Seniorenfreizeitstätte, die – nach der Erinnerung zweier heutiger Bewohnerinnen – von einer senatsfinanzierten Betreuerin geführt worden war. Nachdem diese weg war, wurde der einem der Wohngebäude vorgelagerte Flachbau eine Zeit lang selbstorganisiert bespielt, dann aber von der Stiftung an einen Pflegestützpunkt vermietet. Das war sinnvoll, weil er der Bewohnerschaft einen kurzen Weg zu Beratung und Erster Hilfe ermöglichte. Doch 2017 kündigte die Stiftung dem Betreiber des Stützpunktes. Seit 2019 befindet sich dort eine Kita, von der die Senioren laut zweier Bewohner nichts haben, außer zusätzlichem Autoverkehr (Stichwort Elterntaxi) und Lärm (Kitaaußenbereich direkt unter Balkonen von Wohnungen). Der Vorteil für die Stiftung dürfte sein, dass die Kita im Gegensatz zum Pflegestützpunkt die kompletten Räumlichkeiten nutzt und somit mehr Miete zahlt.

Stiftungsvorstand Kirchner gab 2022 in einer regionalen Kirchenzeitung zu, dass die Stiftung stark verschuldet ist und er deshalb »in Verhandlung mit Banken und Geldgebern« sei. Das dürfte der Grund dafür sein, dass sich die Lebensqualität in der Seniorenwohnanlage in einem Ausmaß verschlechtert hat, das dem Stiftungszweck zuwiderläuft. Der Bewohnerschaft sind kaum Möglichkeiten für ein soziales Miteinander geblieben. Den Abbau entsprechender Veranstaltungen und Räume rechtfertigt die Stiftung zum einen mit den Veranstaltungsangeboten der Teilzeitpfarrerin, die in der Siedlung in eigenen Räumen arbeitet, und zum anderen mit den kostenpflichtigen Angeboten vor Ort zur Körperpflege.

Der bizarrste Konflikt, bei dem Stiftung und HWS dem Stiftungszweck zuwiderhandeln, betrifft eine sogenannte Cafeteria in einem der Wohnhäuser. Der Raum mit kleiner Küche dient Nachbarschaftstreffen und anderen Freizeitaktivitäten. Samstag nachmittags, wenn die Nachbarschaftsgruppe am ehesten Zeit hat, darf sie ihn aber nicht nutzen. Die Stiftung erlaubt eine Nutzung nur zu den Zeiten, in denen Hauswarte in der Wohnanlage unterwegs sind. Der Streit um die Cafeteria hat seit 2018 schon verschiedene externe Akteure bis hin zur Stiftungsaufsicht des Berliner Senats beschäftigt, aber die Stiftung blieb hart. Die Hausverwaltung empfahl der Nachbarschaftsgruppe 2019, sich auf dem Flur in einer Sitzecke neben einem Fahrstuhl zu treffen, was diese seitdem auch macht. Dort müssen die Senioren, die nicht unbeaufsichtigt in einer Cafeteria Kaffee kochen und trinken dürfen, nun immer zusätzliches Mobiliar herbeischleppen.

Sitzungsprotokolle des Stiftungsvorstands zeigen, dass er die Cafeteria 2019 der gerade eröffneten Kita zur Nutzung anbot. Auch dieses Ansinnen – das vielleicht zusätzliche Einnahmen bringen sollte – steht dem Stiftungszweck entgegen. Die Protokolle aus mehreren Jahren legen zudem nahe, dass die HWS in der Wohnanlage eine viel größere Rolle spielt, als sie Hausverwaltungen normalerweise haben, und somit eine große Mitverantwortung für die Zustände trägt. Berlins evangelischer Bischof Christian Stäblein ist seit 2019 über die anhaltenden Konflikte zwischen besagter Nachbarschaftsgruppe und der Stiftung informiert, hält aber zu letzterer.

Gentrifizierung auf katholisch

Auch von katholischer Seite aus wird der soziale Frieden in der Hauptstadt auf dem Wohnungsmarkt torpediert. Allerdings ist dafür nicht das Berliner Bistum verantwortlich, denn das verkaufte sein Wohnungsunternehmen Petruswerk 2003 aufgrund finanzieller Probleme an den katholischen Unternehmer Douglas Fernando, der eng mit dem österreichischen Mönchsorden Unbeschuhte Karmeliten verbunden ist. Die deutsche und die österreichische Sektion dieser Karmeliten kauften zunächst eine Mehrheit der Anteile am Petruswerk, doch später wurde Fernando Mehrheitsgesellschafter. Mit hochpreisigen und oft unzuverlässig ausgeführten Bauprojekten vor allem in Oberösterreich (die Region um Linz), aber auch in Berlin und an der mecklenburgischen Müritz hat Fernando seinen Ruf ruiniert. Und offenbar haben zumindest die Österreicher die Nase voll, denn sie zogen sich 2022 aus dem Mutterunternehmen von Fernandos Avila-Konzern zurück. Ein Zweck dieses Konzerns ist laut Selbstdarstellung, einen Teil seiner Gewinne in die Missionsstiftung der Karmeliten zu stecken, die auf mehreren Kontinenten soziale Projekte umsetzt.

Einer der neuesten Schauplätze ist Berlin-Neukölln. Allerdings wird dort nicht etwa ein soziales Projekt finanziert, sondern, im Gegenteil, sehr viel Geld umgesetzt. Das hochpreisige Neubauprojekt St. Marien auf einem Gelände neben der ehemaligen Geburtsklinik gleichen Namens kam dabei aber vergangenes Jahr ins Stocken. Auch der Berliner Lokalpresse fiel auf, dass zumindest im neuen 21stöckigen Hochhaus viele Wohnungen noch auf eine Vermietung warteten. Heute, über ein Jahr nach der Annoncierung auf der Firmeninternetseite, werden noch immer 24 der 38 Dreizimmerwohnungen und drei der sechs Vierzimmerwohnungen angeboten. Nur die 28 Zweizimmerwohnungen sind offenbar vermietet. Je höher die Wohnungen liegen, desto höher ist auch die Miete. Es ergeben sich Warmmieten zwischen 24 und 33 Euro pro Quadratmeter. Das explizit »katholische Wohnungsunternehmen« Petruswerk – dem schon 2009 von Berlins damaligem Kardinal Georg Sterzinsky abgesprochen wurde, ein kirchliches Unternehmen zu sein, nachdem es sich in Greifswald mit Bauprojekten unbeliebt gemacht hatte – hat in die eher ärmliche Gegend zwischen S-Bahn- und Autobahnring ein Gentrifizierungsprojekt wie aus dem Lehrbuch gepflanzt.

Milieuschutz abgeschafft

Für Konflikte mit der bestehenden Mieterschaft hat in Berlin in den vergangenen Jahren auch immer wieder die Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft (ASW) gesorgt, das größte kirchliche Wohnungsunternehmen in Deutschland. Es gehört sechs westdeutschen katholischen Bistümern, die zum Teil sehr reich sind – mit Abstand größter Anteilseigner ist das traditionell schwerreiche Erzbistum Köln – und trotzdem jedes Jahr steigende Millionenausschüttungen des vorgeblich an der katholischen Soziallehre ausgerichteten Unternehmens erhalten.

Die ASW baut besonders gerne Wohneigentum, das sie dann verkauft, weil diese Art der »Familienförderung« schon seit Gründung des Unternehmens 1949 katholisch-ideologisch vorgegeben ist. Einschließlich zweier Tochterunternehmen gehören ihm bundesweit rund 17.600 Mietwohnungen. Dort setzt das Unternehmen oft auf Profitmaximierung, wobei es die üblichen Mittel nutzt: schlechte Instandhaltung; Mieterhöhungen nach energetischen Modernisierungen, die bei weitem keine Kostensenkungen im selben Ausmaß bringen; und auch vor Kündigungen renitenter Mieter schreckt die ASW nicht zurück.

In Berlin wurde das Unternehmen 2018/19 einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als eines seiner Häuser im Stadtteil Kreuzberg nach jahrelangem und eigentlich illegalem Leerstand – das vom Bezirksamt verhängte Bußgeld musste die ASW letztendlich doch nicht bezahlen – besetzt wurde. Trotz Verhandlungen über ein kollektives Wohnprojekt mit einem Veranstaltungsraum für nachbarschaftliche Aktivitäten beendete die Wohnungsgesellschaft die Besetzung mit Hilfe der Polizei. Dabei passten das von den Besetzern angedachte Wohnprojekt für ältere Menschen sowie ein Nachbarschaftsraum genau zu den sozialen Strukturen, die das Unternehmen laut seiner Selbstdarstellung schaffen will. Heute befinden sich in dem sanierten Haus in einer Hälfte ein staatlich finanziertes soziales Projekt und in der anderen Hälfte Wohnungen mit einer Kaltmiete von 14 Euro pro Quadratmeter aufwärts.

In Köln, dem Firmensitz, gelang der ASW dieses Jahr ein besonderes Schurkenstück – und zwar mit Hilfe der Stadtverwaltung. Im Bezirk Mülheim gehört ihrem Tochterunternehmen Dewog fast die gesamte Stegerwaldsiedlung. Der allergrößte Teil dieser Siedlung, rund 1.500 Wohnungen, gehört schon seit 1996 zu Kölns erstem sogenannten Milieuschutzgebiet. Da der Stadtrat erst 2019 ein zweites Milieuschutzgebiet beschloss, darf die Stegerwaldsiedlung vielleicht als lange Zeit ärmste Gegend der Stadt bezeichnet werden. Auch heute noch ist die Siedlung offiziellen Zahlen zufolge stark geprägt von Armut, hohem Alter und Menschen mit Migrationsgeschichte.

Da die ASW die gesamten 2010er Jahre über umfangreiche energetische Modernisierungen durchführte, erlaubte ihr die Stadtverwaltung, die Mieten beträchtlich zu erhöhen: von im Durchschnitt rund sieben auf zehn Euro nettokalt pro Quadratmeter. Die ASW begnügte sich aber mit neun Euro – tatsächlich mal ein sozialer Zug, der die Stadtverwaltung als um so unsozialer entlarvte.

Ab 2022 prüfte das Stadtentwicklungsamt, ob die Voraussetzungen für den Milieuschutz noch gegeben waren. Das war nicht vorgeschrieben und auch seit 1996 noch nie gemacht worden. Im Mai dieses Jahres kam ein externes Gutachten zu dem Schluss: Das Verdrängungspotential in der Siedlung ist »aufgrund der sozioökonomischen Bevölkerungszusammensetzung weiterhin hoch«. Doch zum einen wird das Aufwertungspotential als nur noch gering eingeschätzt, da bei den energetischen Sanierungen schon viel baulich aufgewertet worden sei; zum anderen wird der aus der Umgebung erwachsende Verdrängungsdruck als eher gering oder zumindest unklar eingeschätzt. Und das, obwohl es laut der Linksfraktion im Kölner Stadtrat in der direkten Nachbarschaft zwei Immobiliengroßprojekte gibt, die für genau die Verdrängungsgefahr stehen, mit der das Milieuschutzgebiet in den 1990ern begründet wurde. Im Fazit des Gutachtens überwiegt die Entwarnung mit einem perfiden Argument: Da die städtischen Auflagen für die energetische Modernisierung der Siedlung nur für fünf Jahre Mietobergrenzen vorsahen, und diese fünf Jahre nun just um sind, könnten die Mieten nun wie überall auch steigen – der Milieuschutz habe darauf keinen Einfluss. Ein weitgehend wirkungsloser Milieuschutz sei aber nicht gerechtfertigt. Dieser Argumentation schloss sich im Mai die Stadtratsmehrheit aus Bündnis 90/Die Grünen, CDU und Volt an und hob den Milieuschutz auf. Vorher hatte das Bezirksparlament Mülheim fast geschlossen (bis auf die AfD-Vertreterin) gegen diesen Schritt gestimmt.

Moralische Selbstinszenierung

Das mit Abstand älteste Milieuschutzgebiet in der viertgrößten Stadt Deutschlands ist also Geschichte – obwohl dort im wesentlichen dieselben Bedingungen vorliegen wie bei seiner Ausrufung. Denn die Stadtverwaltung genehmigte zuerst Mieterhöhungen, die sie nicht genehmigen musste (was übrigens auch für den Anbau von Aufzügen gilt), und sagte dann: Jetzt kann der Milieuschutz keine Mieterhöhungen mehr verhindern. Davon profitieren die ASW und alle Menschen mit relativ viel Geld, die im innenstadtnahen Mülheim in einer ruhigen Siedlung wohnen wollen. Das kirchliche Wohnungsunternehmen hatte schon vor langem sein Ansinnen bekundet, mehr wohlhabende Menschen in die Siedlung zu bekommen, etwa durch den Bau von Reihenhäusern. Die Mieter, die seit 2019 in die Siedlung gezogen sind, zahlen laut dem erwähnten Gutachten für die Stadtverwaltung schon durchschnittlich elf Euro nettokalt pro Quadratmeter.

Den Markt auszureizen, hat bei der ASW Methode. In ihren Geschäftsberichten freut sie sich offen über den »Nachfrageüberhang« auf den Wohnungsmärkten. Dieser garantiert vor allem in den Ballungsräumen in Nordrhein-Westfalen und in Berlin, wo der Großteil ihrer Häuser steht, weiterhin steigende Mieten. Im Prinzip herrscht bei ihr, wie auch bei der evangelischen HWS, die Mentalität vor, die beim Petruswerk mit seinen sehr teuren Mieten zugunsten von Hilfsprojekten auf anderen Kontinenten nur ins Extreme getrieben wird: Da wir sozial sind, ist es letztendlich auch sozial, wenn wir auf dem Wohnungsmarkt unsere Einnahmen steigern. Für das in kirchlichen Kreisen so wichtige gute Gewissen und die nicht minder wichtige Selbstinszenierung als moralische Instanz werden ein paar soziale Wohnungsprojekte in der Öffentlichkeitsarbeit hervorgehoben, während die ach so christlichen Wohnungsunternehmen im wesentlichen ziemlich normale Marktakteure sind.

Ralf Hutter ist freier Journalist und Autor des Buches: »Der Hausherr gibt es, der Hausherr nimmt es. Profitgier und Verdrängung im christlichen Immobiliengeschäft« (Alibri-Verlag, 220 Seiten, 18 Euro). Er stellt das Buch am heutigen Montag, den 14. Oktober, um 19 Uhr bei Helle Panke e. V., Kopenhagener Str. 9, 10437 Berlin, vor. Moderation: Fabian Kunow, Eintritt: 2 Euro.Weitere Buchvorstellung: 2.11., 16 Uhr, Linke ­Literaturmesse, Königstraße 93, Nürnberg

Ralf Hutter schrieb an dieser Stelle zuletzt am 24. August 2024 über Reporter ohne Grenzen und deren Verhältnis zu Julian Assange: Schändliche Schandlisten

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