Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Gegründet 1947 Sa. / So., 15. / 16. Juni 2024, Nr. 137
Die junge Welt wird von 2788 GenossInnen herausgegeben
Jetzt zwei Wochen gratis testen. Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Aus: Ausgabe vom 24.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Ballett

Elastische Eleganz. Das New Chamber Ballet aus New York in Berlin

Von Gisela Sonnenburg
NewChamberBallet_byEduardoPatinoNYC_1.jpg
Sie heben einander, drehen sich, gehen lautlos zu Boden: New Chamber Ballet

Die Kuh beginnt zu kalben, eine Palomino-Stute ist auch schon trächtig. Im Rosengarten duftet es, das Grün des Rasens ist satt: Auf dem ehemaligen Rittergut von Schloss Britz im Süden Berlins regiert der Frühsommer. Vergangenen Sonnabend gab es in diesem Idyll einen seltenen tänzerischen Gruß aus Übersee: Das New Chamber Ballet aus New York City, vor fast zwanzig Jahren vom Choreographen Miro Magloire gegründet, tanzte im Kulturstall des Schlosses ein Gesamtkunstwerk mit dem Titel »Pi«, benannt nach der mathematischen Einheit 3,14. Diese Zahl findet bekanntlich kein Ende. 62,8 Billionen Stellen wurden nach dem Komma schon ermittelt, als vorläufiges Ergebnis. Berechnet wird Pi, indem man den Umfang eines Kreises durch seinen Durchmesser teilt. Damit beginnt das Mysterium.

Das Publikum sitzt an allen Seiten der Tanzfläche. Zeichnungen werden dorthin projiziert, wo die fünf Tänzerinnen ihre Körperkunst ausüben werden. Der Künstler Korvin Reich fertigt seine Werke händisch, mit bis zu zwei Metern Höhe. Die erste Projektion zeigt Linien, die nummerierte Kugeln verbinden. Tatsächlich ergeben die Kugeln die Zahl Pi mit etlichen Stellen nach dem Komma. Die Ziffern haben Farben: Jede hellblaue Kugel zählt als drei, jede weiße als eins, jede dunkelgelbe als vier.

Das Bild wechselt, die Musik hebt an: mit Surren, Brummen, Bimmeln, Dröhnen. Konsequent wirkt ein tiefer Grundton, wie von einem Bass. Der Komponist Caspar René Hirschfeld, der in Dresden studierte, schuf ein komplexes elektronisches Werk, dessen Sounds mal an Naturlaute, mal an technische Geräusche erinnern.

Zwei Tänzerinnen treten auf: weiß gewandet, weiße Turnschuhe tragend. Sie wirken so surreal wie Neuausgaben von Barbarella. Abwechselnd tanzen sie im Stehen, lassen ihre Partnerin, am Boden liegend, einen Fuß von sich festhalten. Als könnte man beim anmutigen Tanz leicht fortgeweht werden.

Zwei andere Protagonistinnen führen das Miteinander fort. Eine zeigt ein makelloses Penché, also einen vertikalen Spagat. Eine dritte Frau kommt, tanzt ein Solo. Anmutig und elastisch-elegant sind die Bewegungen, doch niemals wird gesprungen. Es gibt Posen, die lange gehalten werden, aber keine ruckhaften, zackigen Gesten. Der Stil ist entschieden soft.

Das Kostüm gehört dazu. In der Tanzgeschichte gibt es seit 1928 Frauen in hellen Bodysuits, die moderne Elfen oder Feen verkörpern. Léonide Massine hat sie für sein Stück »Ode« bei den Ballets Russes erfunden. Max Reinhardt hat wenige Jahre später so seine Titania im Film »Ein Sommernachtstraum« geschmiedet. Welche wiederum für John Neumeier 1977 mit seinem »Sommernachtstraum«-Ballett das Vorbild war. Seither haben Choreographen wie Heinz Spoerli, Merce Cunningham und Christopher Wheeldon diesen Look variiert.

Miro Magloire, der in München geboren wurde und in Köln zunächst Musik bei Mauricio Kagel studierte, umarmt diese Tradition und führt sie weiter, indem er seinen Ballerinen in hellen Trikots die Anmutung fast überirdischer Wesen verleiht. Sie heben einander, drehen sich, gehen lautlos zu Boden, stehen wieder auf. Wie in einem Sog erfühlt man ihre Welt: einen Kosmos ohne Neid und Hass, in dem Zuneigung das Grundgefühl bildet.

Verstärkt wird dieser Eindruck, als die Musik und Projektionen teils zusammenbrechen. Die jungen Damen tanzen trotz der Panne einfach weiter, gleichmäßig und souverän. Und siehe: Auch die Stille ist ein guter Partner, wenn man mit ihr umzugehen weiß.

Später erinnern Kreisformen an Pi. Eine Tänzerin legt sich auf den Rücken der anderen. Pi scheint auch eine soziale Größe zu sein. Für den Komponisten Hirschfeld ist ohnehin klar: Mathematik ist eine Geisteswissenschaft. Philosophischer Zuschlag inklusive. Ein gutes halbes Jahr hat er in Wernigerode im Harz, wo er lebt, an »Pi« gearbeitet, bevor sein Werk nach New York ging. Die deutsche Erstaufführung fand in Magdeburg statt. Somnambul heben und senken die Tänzerinnen ihre Arme, Köpfe, Beine. Die Zeichnungen werden scharfkantig, bekommen harte Kontraste. Dualität zeigt sich in den Formationen, die mal wie ein Labyrinth, mal wie ein Abgrund wirken. Doch dann bröckelt das Bild, es zerfällt, löst sich auf. Übrig bleiben die Tänzerinnen, zart und dennoch stark. Choreograph Magloire sagt es so: »Beim Thema ›Mensch und Technologie‹ hat sich zum Glück herausgestellt, dass auf den Menschen mehr Verlass ist.« Das Rätsel Pi scheint somit fast gelöst. Und draußen lernt das neu geborene Kalb gerade gehen.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Mehr aus: Feuilleton