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Aus: Ausgabe vom 24.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Pop

Rebellion mit Plan

Isabella Caldart liefert ein erfreulich politisches Porträt der Band Nirvana
Von Marc Püschel
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»Homofeinde abfucken« – Nirvana (1990)

Für einen kurzen Moment konnten sich fast alle auf Grunge einigen, damals an meinem oberbayerischen Kleinstadtgymnasium in den 90er Jahren. Für richtige Subkulturen, etwa eine Punkclique, waren wir zu provinziell und der kulturelle Siegeszug des Rap stand erst bevor. So bildeten Bands wie Pearl Jam oder Nirvana eine Zeitlang die ideale Schnittmenge, besonders für diejenigen, die sich nicht an die Mehrheitsgesellschaft anpassen wollten. Denn dass da nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch rebelliert wurde, war uns irgendwie klar, obwohl es kaum einer bewusst verarbeitete. Selbst um das berühmte Statement, das Nirvanas Album »Incesticide« beigefügt war und in dem sich die Band explizit gegen Homophobie, Rassismus und Misogynie aussprach, wusste kaum einer, schließlich kursierte die Musik vorrangig auf selbst geschnittenen Tapes oder raubkopierten CDs, und auch MTV guckte (noch) niemand. Trotzdem fand, wer jugendlich und irgendwie »anders« war, in Kurt Cobains Gesang eine Zuflucht.

Diese für uns damals nur unterschwellig vorhandene politische Message auszubuchstabieren, ist ein Verdienst des kurzen Bandporträts von Isabella Caldart. Natürlich gibt es bereits gewichtige Darstellungen und Biographien über Nirvana und Kurt Cobain. Dennoch vermittelt das in Reclams »100 Seiten«-Reihe erschienene Bändchen Wissen, das anderswo fehlt. So wird auf die oft vernachlässigte prägende Rolle von Frauen für die Entwicklung des Grunge im allgemeinen und von Kurt Cobain im besonderen hingewiesen. Ohne etwa Tina Bell, die »Godmother of Grunge«, und ihre Band Bam Bam wäre die Entwicklung des »Seattle-Sound« kaum denkbar. Der Nirvana-Sänger wiederum zehrte viel von seiner Freundschaft mit Kim Gordon, der Sängerin von Sonic Youth, oder seiner Beziehung mit Tobi Vail von Bikini Kill, die Cobain mit feministischer Theorie bekannt machte (und durch ihr Deo mit dem Namen »Teen Spirit«, nach dem Kurt angeblich roch, auch den Titel des berühmtesten Nirvana-Songs inspirierte).

Ein eigenes Kapitel ist Cobains queerer Seite und seiner politischen Bedeutung gewidmet. Homosexualität und Auflehnung gegen starre Geschlechterrollen waren zwar nach Freddie Mercury, David Bowie und Co. nicht mehr neu, vermittelten aber in der von betont machohaft-harten Rockbands wie Guns N’ Roses geprägten Musikwelt der 90er Jahre dennoch wichtige Botschaften. Für Cobain war das Kokettieren mit Homosexualität ein gezieltes Auflehnen gegen gesellschaftliche Normen, das Tragen von Kleidern und Make-up oder das demonstrative Küssen der Bandmitglieder Krist Novoselic und Dave Grohl auf Konzerten ein Statement, »um Homofeinde abzufucken«.

Der zweite Pluspunkt der 100 Seiten ist das gesunde Mittelmaß der Darstellung. Das gilt einerseits für die Schattenseiten wie den Heroinkonsum, der erklärt, aber nicht dämonisiert wird, oder Cobains Suizid, von dem knapp, nüchtern und ohne unangemessenes Herumpsychologisieren berichtet wird. Andererseits überhöht Caldart die Band auch nicht. Gut dargestellt ist vor allem der Drahtseilakt, Karriere im Musikbusiness machen und gleichzeitig den Ruf der Undergroundband bewahren zu wollen. Um beides unter einen Hut zu bringen, feilte Cobain akribisch am Image seiner Band: »Kurt hatte eine klare Vorstellung davon, wie seine Karriere verlaufen sollte. Die künstlerische Kontrolle über das Nirvana-Songwriting, über Musikvideos, Coverart und Merchandise oblag allein ihm.« Das führte zu allerlei Kompromisslösungen. Als Nirvana sich 1992 für das Titelblatt des berühmten Rolling Stone-Magazins ablichten ließ, trug Cobain ein T-Shirt mit der Aufschrift »Corporate Magazines Still Suck« – so viel Rebellion musste sein.

Alles andere – der Aufstieg zu der Grunge-Band schlechthin, die Konzertgeschichte vom ersten Auftritt auf einer Privatparty 1987 bis zum letzten Gig 1994 in München-Riem, die internen Zerwürfnisse, Konflikte mit den Medien, die Beziehung mit Courtney Love usw. – wird so ordentlich dargestellt, wie es auf 100 Seiten eben möglich ist. Auch die kurze Werkschau über die Alben »Bleach«, »Nevermind«, »Incesticide«, »In Utero« und das »MTV Unplugged«-Album ist gelungen. Alles Wesentliche auf so begrenztem Raum unterzubringen, ist eine Kunst. Caldart hat sie gemeistert. Dank einer von ihr erstellten Spotify-Playlist kann man auch einige weniger bekannte Nirvana-Songs entdecken. Und noch einmal mitgrölen, wie damals in den 90ern.

Isabella Caldart: Nirvana. Reclam-Verlag, Stuttgart 2024, 100 Seiten, 12 Euro

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