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Aus: Ausgabe vom 24.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
NATO-Erweiterung

Neutral war gestern

Nächste Runde der NATO-Erweiterung? Druck auf Irland, Malta, Österreich und Schweiz steigt, die Länder sind »Partnerschaft« nicht abgeneigt
Von Jörg Kronauer
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Bald unter NATO-Flagge? Die Kunstflugstaffel der Schweizer Luftwaffe auf der Axalp 2023

Jetzt aber rein in die NATO! Grant Shapps machte Druck, als er sich am Mittwoch in London zu Wort meldete. Da gebe es Staaten in Europa, die »von dem Schutzschirm des Bündnisses« profitierten, die sich aber »an der kollektiven Abschreckung des Kontinents nicht beteiligten«, beschwerte sich Großbritanniens konservativer Verteidigungsminister: Trittbrettfahrer, die immer noch an ihrer Neutralität festhielten, anstatt sich endlich in die Allianz einzureihen und kräftig in ihr Militär zu investieren. Shapps nannte Irland, Malta, Österreich und die Schweiz nicht beim Namen, und doch war es klar, dass er die vier Länder meinte. »Wenn der Wolf an der Hintertür der europäischen Sicherheit steht, dann sollte es keinen Platz für Neutralität mehr geben«, befand der Minister und kündigte an, er werde sich dafür einsetzen, dass sie der NATO in aller Form beiträten.

Stärkere Beteiligung

Bereitet sich da abseits der öffentlichen Debatte eine nächste Runde der NATO-Erweiterung vor, diesmal von 32 auf 36 Mitglieder, verbunden mit dem Ende der letzten Überbleibsel wenigstens noch formaler Neutralität in Europa? Nun, ganz so weit sind die Dinge wohl noch nicht gediehen. Die Annäherung der vier offiziell noch bündnisfreien Staaten Westeuropas an die Allianz aber, die sich schon seit langer Zeit beobachten lässt, schreitet aktuell rascher voran als bisher. Das belegt ein Schreiben, das die Regierungen Irlands, Maltas, Österreichs und der Schweiz bereits im Dezember 2023 an die NATO-Zentrale in Brüssel schickten und aus dem kürzlich zunächst die österreichische Tageszeitung Die Presse zitierte, dann auch Schweizer Medien. In ihm heißt es, die »vier Westeuropäischen Partner« (WEP 4) seien von einer »wachsenden Bedeutung« ihrer Kooperation mit der NATO überzeugt, und sie wollten die »Partnerschaft« nun, auch mit Blick auf den Jubiläumsgipfel der NATO im Juli in Washington, »erweitern«.

Konkret schlagen die vier offiziell neutralen Staaten dafür fünf Punkte vor. Zunächst wollen sie ihren Austausch mit der NATO intensivieren, etwa häufiger an »hochrangigen Sitzungen« teilnehmen, vor allem auch am NATO-Rat. Zudem dringen sie auf einen »privilegierten Zugang zu Dokumenten und Informationen«; insbesondere haben sie dabei einen Austausch von Aufklärungsdaten im Sinn. Drittens wünschen sie, mehr in Entscheidungen eingebunden zu werden, insbesondere in die Erstellung von Strategien: »Das erhöht die Legitimität neuer Normen und erleichtert die Bereitschaft der Partner, sich ihnen anzuschließen«, zitiert Die Presse aus dem Schreiben der WEP 4. Viertens bieten sie eine stärkere Beteiligung an Manövern an, »zur Verbesserung der Interoperabilität«; und fünftens wollen sie enger in die rüstungstechnologische Kooperation des Militärbündnisses einbezogen werden. Letzteres zielt auf eine Beteiligung am Defence Innovation Accelerator for the North Atlantic (DIANA), einem 2021 gegründeten NATO-Format, das modernste Hightechinnovationen für die transatlantischen Streitkräfte nutzbar machen soll.

Die Kooperation der offiziell neutralen Staaten mit der NATO reicht weit zurück. Die Schweiz etwa hielt bereits seit den 1950er Jahren regelmäßigen Kontakt zur westlichen Militärallianz, traf etwa – allerdings strikt informell – Absprachen mit der Bundesrepublik über sogenannte Anschlusspunkte an der gemeinsamen Grenze, an denen man im Fall eines sowjetischen Angriffs den militärischen »Schulterschluss« vollziehen wollte. Formalisiert wurde die Zusammenarbeit ab Mitte der 1990er Jahre im Rahmen der NATO-»Partnership for Peace« (PfP), die unter anderem gemeinsame Manöver umfasste; an ihr nahmen neben der Schweiz, Österreich, Irland sowie Malta (nach einem kurzen Hin und Her endgültig ab 2008) auch Finnland und Schweden teil, die allerdings bereits Mitte der 2000er Jahre die formelle Mitgliedschaft ins Visier zu nehmen begannen, wenngleich zunächst nur intern. Die Schweiz, Österreich und Irland haben sich mehrfach an NATO-Einsätzen beteiligt bzw. tun das noch heute, einst etwa in Afghanistan, zur Zeit im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Malta öffnete der NATO im Jahr 2011 immerhin seinen Luftraum für Flüge im Rahmen des Libyen-Kriegs.

Projekt der Eliten

In Finnland und Schweden ist es den herrschenden Eliten gelungen, den Ukraine-Krieg zu nutzen, um die zuvor klar ablehnende Haltung der Bevölkerung zu einem NATO-Beitritt zu ändern und klare Mehrheiten für die Mitgliedschaft zu erhalten. Dank der seit den 2000er Jahren intensiv ausgebauten Kooperation der beiden Länder mit der NATO war ihre Aufnahme in das Bündnis, sieht man von den taktischen Manövern der Türkei und Ungarns ab, letzten Endes kaum mehr als eine Formalität. Auch in den WEP 4 haben zumindest Teile des jeweiligen Establishments den russischen Angriff auf die Ukraine zu nutzen versucht, um Stimmung für eine weitere Annäherung an die Allianz zu machen. In der Schweiz warb Bundespräsident Ignazio Cassis im Mai 2022 für eine »kooperative Neutralität«. In Österreich schrieben diverse Politiker, Wirtschaftsvertreter und Militärs ebenfalls im Mai 2022 einen offenen Brief, indem sie eine »Debatte ohne Scheuklappen« über die Neutralität verlangten. Diese werde allerdings, räumten sie zufrieden ein, schon jetzt »in der Praxis sehr flexibel interpretiert«.

In Irland wiederum schlug der ehemalige, später erneut ins Amt gelangte Ministerpräsident Leo Varadkar im Mai 2022 vor, die Bevölkerung über die Beteiligung der irischen Streitkräfte an einer EU-Armee abstimmen zu lassen; diese solle dann eng mit der NATO zusammenarbeiten – auch dies ein Weg zur indirekten Einbindung in das Militärbündnis. In Malta debattierte das Parlament zur selben Zeit sogar darüber, die seit 1987 in der Verfassung des Landes verankerte Neutralität gänzlich abzuschaffen. Allerdings schien dies wegen offenkundiger Widerstände in der Bevölkerung kaum machbar zu sein.

Mit ihrem Schreiben vom Dezember 2023, das laut Informationen der FAZ von Malta initiiert worden sein soll, haben die WEP 4 dem Bemühen um eine intensivere Kooperation nun einen neuen Schub verpasst. Auch wenn der von Grant Shapps gewünschte NATO-Beitritt noch nicht in Sicht ist: Letztlich ist er vor allem eine Formalität; eine enge militärische Zusammenarbeit geht auch ohne ihn.

Hintergrund: Skepsis über NATO-Mitgliedschaft

Noch sprechen sich in den offiziell neutralen Ländern Westeuropas klare Mehrheiten der Bevölkerungen für die Beibehaltung des Abstands zur NATO aus. Am deutlichsten ist das wohl in der Schweiz der Fall. Im Januar lag der Anteil derer, die den offiziell neutralen Status beibehalten wollten, bei 91 Prozent. In Österreich wiederum äußerten etwa in einer Umfrage im Februar 78 Prozent der Befragten, ihr Land solle weiterhin neutral bleiben. In Irland lag der Anteil im Juni vergangenen Jahres deutlich niedriger, erreichte aber immer noch 61 Prozent. In Malta kam eine Umfrage im Jahr 2022 auf 63 Prozent; das war allerdings noch kurz vor Beginn des Ukraine-Kriegs.

Relativiert werden die Zahlen allerdings durch Zusätze. In der Schweiz etwa sprachen sich 30 Prozent für einen NATO-Beitritt, 52 Prozent für eine Annäherung an das Militärbündnis aus; wie das mit der 91-Prozent-Zustimmung zur Neutralität zusammengehen soll, ist rätselhaft, zumal 50 Prozent sogar für eine operative Kooperation mit der NATO votierten, also für eine praktische Zusammenarbeit der Streitkräfte. In Österreich wiederum scheint die Haltung zur NATO auch damit zusammenzuhängen, dass nur 16 Prozent auf die Frage, ob sie sich im Fall eines militärischen Angriffs mit der Waffe in der Hand verteidigen wollten, mit einem klaren Ja antworteten und nur 16 weitere Prozent mit »eher ja«; 41 Prozent erklärten entschieden: »auf keinen Fall«. Allerdings sind mittlerweile 51 Prozent zu der – durchaus realistischen – Erkenntnis gelangt, dass Österreichs Neutralität längst »ausgehöhlt« ist; nur 40 Prozent aller Österreicher glauben demnach noch an sie. In Irland wiederum ergab die Umfrage von 2023, die die Zustimmung zur Neutralität bei 61 Prozent sah, Mehrheiten von 56 Prozent für den Beitritt zur NATO und sogar von 71 Prozent für eine engere Militärkooperation im Rahmen der EU. Wie das zusammengehen soll, bleibt einigermaßen nebulös. (jk)

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