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Aus: Ausgabe vom 23.05.2024, Seite 12 / Thema
Geschichte der BRD

75 Jahre Entfesselungskunst

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Nach zwei verlorenen Weltkriegen musste sich der deutsche Kapitalismus neu aufstellen
Von Georg Fülberth
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Umbau der Republik. Das 1990 entstandene Gesamtdeutschland dominiert Europa (Bauarbeiten im Plenarsaal des Deutschen Bundestages im ehemaligen Bonner Wasserwerk, Juni 1986)

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Der 75. Geburtstag 2024 wird offenbar eher verhalten begangen werden. Es ist nur ein halbrunder, gewiss. Außerdem wird jedes Jahr ein Gründungsfest gefeiert, am 3. Oktober. Dass 2024 die Genugtuung nicht durchgehend überwiegt, hat mit aktuellen Verunsicherungen zu tun.

Inzwischen liegen umfangreiche Geschichtsbücher zur Geschichte der Bundesrepublik vor, darunter bereits fünf repräsentative Bände, die 1983 bis 1987 von der Deutschen Verlagsanstalt und F.A. Brockhaus herausgebracht worden sind. In Wirklichkeit sind es sogar sechs: Der fünfte musste zweigeteilt werden, als könne man das Glück kaum fassen. Die BRD erscheint da als ein gelungenes Staatswesen. Selbst Leute, die irgendwann opponiert hatten, stimmen dem mittlerweile zu.

Gegenwärtig gilt Erreichtes als bedroht. Gemeint sind: die ökonomische Prosperität, die nicht auf Dauer gesichert sein könnte, der sogenannte gesellschaftliche Zusammenhalt, die demokratischen und rechtsstaatlichen Werte, die internationale Stellung, ja, Leib und Leben. Krieg in Sicht. Man weiß nicht so recht, ob das Glas halb voll ist oder halb leer.

Vielleicht lohnt ein Blick auf die Zeiten, in denen es sich einst füllte, dann umgekippt, ja zerschlagen wurde, bis eine Kopie gefertigt wurde, sich wieder füllte und jetzt zumindest ein bisschen wackelt. Das ist eine lange Geschichte.

Prägende Vorgeschichte

Nach herrschender Lehre begann sie gar nicht am 23. Mai 1949, sondern am 18. Januar 1871, als das Deutsche Reich mit seinem Kaiser Wilhelm I. an der Spitze gegründet wurde. Reichlich spät für einen Nationalstaat, andere Länder waren weit voraus. Lange war Deutschland nicht viel mehr als ein geographischer (und kultureller) Begriff. Von 1815 bis 1866 gab es einen »Deutschen Bund« von 34 bis 39 Fürstentümern und einigen »Freien Städten«. Sie waren je für sich souverän und hatten ihre eigenen Zollgrenzen. Als in den zwanziger Jahren die Industrielle Revolution auch dieses Sammelsurium erfasste, drängte das sich nun akkumulierende Kapital auf einen einheitlichen Markt mit dem Überbau eines Nationalstaats und einer eigenen Nationalökonomie. Militärische Gewalt, exekutiert von einer Vormacht – Preußen –, half in drei Kriegen (1864 gegen Dänemark, 1866 gegen das Habsburgerreich und 1870/71 gegen Frankreich) nach und führte im Bürger- und Kleinbürgertum zur Verherrlichung des Einsatzes von »Blut und Eisen«, mit denen laut Bismarck zusammenzubringen war, was zusammengehörte.

Unmittelbar danach ging in den ökonomisch am weitesten entwickelten Ländern der Kapitalismus der freien Konkurrenz in sein monopolistisches Stadium über und griff imperialistisch über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus. Die ökonomisch-militärische Dynamik, mit der letzterer in Deutschland gerade herbeigeschossen worden war, führte zum deutschen Griff nach der Weltmacht und schien mit der Zerschlagung Nazideutschlands 1945 ein für allemal gestoppt.

Intermezzo

Der deutsche Kapitalismus war auf den westlichen Teil des untergegangenen Reichs zurückgedrängt, hatte aber seine grenzüberschreitende Dynamik beibehalten. Zunächst ging es um Wiedergewinnung des im Osten Verlorenen, darunter die Wiederherstellung der nationalen Einheit, zugleich um den Kampf gegen den Sozialismus, der seit 1917 auch geopolitisch zu einer Gefahr geworden war. Die Sowjetunion, eine der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, hatte Osteuropa unter ihren Einfluss gebracht, außerdem Mittel- und Ostdeutschland, die vorderhand für das Kapital verloren schienen.

Dies galt zunächst auch innenpolitisch. Die CDU der britischen Besatzungszone befand in ihrem Ahlener Programm vom 3. Februar 1947: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.

Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.«

Artikel 41 der Hessischen Verfassung (1946) lautete:

»Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden

1. in Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen,

2. vom Staate beaufsichtigt oder verwaltet, die Großbanken und Versicherungsunternehmen und diejenigen in Ziffer eins genannten Betriebe, deren Sitz nicht in Hessen liegt. Das Nähere bestimmt das Gesetz.«

Solche Bekundungen lasen sich damals wie der Nachvollzug bereits eingetretener Tatsachen. Der Kapitalismus, faktisch bereits erledigt, schien lediglich noch einen schriftlichen Tritt zu bekommen. Die Großunternehmen waren sequestriert, d.h. sie unterstanden der Treuhänderschaft der Besatzungsmächte (auch im Westen), ihre Eigentümer saßen teilweise in Haft und wurden später vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt.

Stop-and-Go

Rettung brachte der Kalte Krieg, den der US-Präsident Harry Truman am 12. März 1947, einen Monat nach Ahlen, ausrief. Diese Wende entsprach den ökonomischen und geopolitischen Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika: Hochrüstung, Waren- und Kapitalexport beugten einer Überproduktionskrise vor, von der ein neuerlicher Einbruch wie in der Großen Depression ab 1929 befürchtet wurde. Schon seit Franklin D. Roosevelt hatten die USA den Isolationismus durch eine Sicherheitsstrategie ersetzt, mit der sie die Beherrschung der transpazifischen und transatlantischen Gegenküste durch eine potentiell feindliche Macht zu verhindern suchten. Die westlichen Besatzungszonen Deutschlands sollten ein Brückenkopf gegen die Sowjetunion werden wie u. a. Japan und Südkorea gegen China.

Hier sah ein pensionierter Kölner Oberbürgermeister, Konrad Adenauer, der zum Führer einer neuen Partei, der CDU, aufstieg, eine Chance. Zwar war Ost- und Mitteldeutschland zunächst verloren. Aber die Westzonen, in einem Separatstaat organisiert, konnten zur Bastion werden, von der aus eine Rückeroberung möglich war. Voraussetzung war die Einordnung in die US-amerikanische Strategie – zunächst Eindämmung (containment) eines unterstellten weiteren Vordringens der UdSSR, dann Zurückrollen (roll back) ihrer Einflusssphäre bis zum Ural. Als besetztes Land musste der künftige Frontstaat aus der Not eine Tugend machen: durch vorläufigen Verzicht auf Souveränitätsrechte, die er in absehbarer Zeit ohnehin nicht hatte – und Einfügung in eine noch zu schaffende größere politische und ökonomische Einheit: (West)-Europa.

Diese Vision war nicht ganz neu. Schon im Kaiserreich gab es Europastrategien des deutschen Kapitals¹, damals allerdings zu verwirklichen nach einem gewonnenen, nicht nach einem verlorenen Krieg. Besonders aufschlussreich ist das sogenannte Septemberprogramm, mit dem der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg 1914 Ziele skizziert hatte. Hier heißt es: »Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa stabilisieren.«²

Deutschland ist hier als eine europäische Zentralmacht vorgestellt, die die umliegenden Länder beherrscht. Der neue Frontstaat fügte sich dagegen dem »Westen« ein, der von nun an zugleich zu einem normativen und geopolitischen Kampfbegriff wurde. Der stand auch für die im Grundgesetz von 1949 verankerten Werte und Institutionen: repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung, Menschen- und Bürgerrechte – Errungenschaften einer jahrhundertelangen Entwicklung in den älteren Demokratien Großbritanniens, der USA, Frankreichs und anderer Staaten. In der Revolution von 1848 und in der Weimarer Republik war dieser Versuch schon zweimal aus eigener Kraft eines Landes in der Mitte Europas unternommen worden und gescheitert, jetzt bezeichnete er den »Westen«, der bald eine doppelte Bedeutung hatte: Demokratie und NATO, also auch Aufrüstung und Antikommunismus.

Ein Schritt zurück, zwei vorwärts – das war deutschlandpolitisch die Strategie, etwaige künftige Selbstentfesselung erst nach Akzeptanz von nicht zu vermeidender Zurückhaltung. Konnte der Kapitalismus das ganze Deutschland zunächst nicht mehr halten, so sollte ihm das halbe – westliche – nun gesichert werden. Von dort aus war gegebenenfalls wieder vorzustoßen.

Aus den Jahren des Intermezzos 1945–1949 blieben im Grundgesetz aber noch Vorstellungen einer gesellschaftspolitischen Neuordnung erhalten, und zwar an zentraler Stelle. Artikel 20 kann wie Artikel 1 (Menschenwürde) und die Bestimmungen über den Föderalismus selbst mit Zweidrittelmehrheit nicht aufgehoben werden. Er definiert die BRD als nicht nur demokratischen, sondern auch sozialen Staat. Wolfgang Abendroth hat darauf hingewiesen, dass dies in Kombination mit den Artikeln 3 (Gleichheit) und 15 (Enteignungen) die Möglichkeit einer gemeinwirtschaftlichen Ordnung im Rahmen der Verfassung zwar nicht zwingend gebietet, aber offenhält.

Aktuell war das bald aber nicht mehr. Statt dessen wurde aufgerüstet und das Grundgesetz den Erfordernissen der Systemauseinandersetzung angepasst, einschließlich der Einfügung einer Wehr- und einer Notstandsverfassung (1956 und 1968). Mit der Schließung der DDR-Grenze 1961 jedoch musste Adenauers Konfrontationskurs (»Politik der Stärke«) aufgegeben werden. Die von Egon Bahr und Willy Brandt ab 1963 statt dessen entworfene und in der sozialliberalen Koalition seit 1969 durchgesetzte Politik des »Wandels durch Annäherung« strebte die Herstellung eines gesamtdeutschen Staates (anders als von CDU/CSU gewollt, unter Hinnahme von Gebietsverlusten) mit anderen Mitteln an. Der Zusammenbruch des Sozialismus 1989/1991 führte zum Erfolg.

Griff nach der Vormacht

Damit war in der Mitte Europas ein ökonomisch starker deutscher Einheitsstaat entstanden. Seit sich circa 1983 abgezeichnet hatte, dass aufgrund der Überrüstung der Sowjetunion durch die NATO dies möglich sein könne, hatte in der linken und der rechten Mitte eine latente Diskussion darüber eingesetzt, welche Bedeutung das für die innere Ordnung des insofern neuen Gebildes und seine Stellung in Europa haben werde. Im Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre mahnte Jürgen Habermas, die Bundesrepublik (von ihm noch nicht als Gesamtdeutschland gedacht) müsse ein Land des Westens bleiben, meinte die Werte der Aufklärung, erwähnte die NATO nicht und warnte vor einem neuen Nationalismus und einem deutschen Sonderweg. Der Stahlhelmflügel der Union unter Führung des Abgeordneten Alfred Dregger drang auf eine Rehabilitierung des untergegangenen alten Reichs. In seiner Rede zum 8. Mai 1985 definierte der Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Niederlage von 1945 als Befreiung und signalisierte damit eine inzwischen stattgefundene angebliche Läuterung und damit gegebene auch künftige Harmlosigkeit. Im nachhinein stellen diese Wortmeldungen sich – den jeweiligen Wortführern wohl noch unbewusst – als Ankündigungen einer neuen geopolitischen Konstellation dar.

Unter Führung des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand bemühten sich die Partner der BRD in der EU, das 1990 entstandene Gesamtdeutschland in der bisherigen Weise einzuhegen. Die Anbahnung der Europäischen Gemeinschaften seit Anfang der 1950er Jahre schien den Frontstaat zum Teil eines größeren Ganzen gemacht zu haben, das zu beherrschen er nicht imstande und eigenem Bekunden nach auch nicht willens war. Zugleich war die BRD schon in diesem Rahmen ökonomisch dominant geworden. Die Einführung einer gemeinsamen Währung – des Euros – galt zunächst als ein Mittel, die BRD weiterhin zu bändigen, wurde aber zum Gegenteil. Die wirtschaftlich schwächeren Staaten waren der Konkurrenz des stärksten schutzlos ausgeliefert, der nunmehr sein eigenes geldpolitisches Regime – darunter die 2009 ins Grundgesetz eingefügte Schuldenbremse – auch zur europäischen Regel machen konnte. 2011 dekretierte der CDU-Politiker Volker Kauder, jetzt werde in Europa Deutsch gesprochen. 2015 hatte der BRD-Finanzminister Wolfgang Schäuble entscheidenden Einfluss auf die griechische Politik.

Stopped?

Die USA hatten inzwischen andere Sorgen. Seit 1991 waren sie mit dem Untergang der Sowjetunion einen militärischen und geopolitischen Rivalen los und hatten dafür einen ökonomischen Konkurrenten: die EU und hier vor allem Deutschland. Als Gerhard Schröder und Joseph Fischer 1998 ihren Antrittsbesuch bei William Clinton machten, stellte dieser klar, dass die Vereinigten Staaten ihre Führungsstellung in Europa beizubehalten gedachten und er von der BRD die bisherige Unterordnung erwartete. Unter der rot-grünen Regierung beteiligte sich Deutschland am völkerrechtswidrigen Angriff auf Jugoslawien. Er wurde von den USA und der NATO militärisch gewonnen, von der Bundesrepublik aber wirtschaftlich. Nunmehr war der Balkan offen, und ein Muster der alten Europastrategie des deutschen Kapitals seit Wilhelm II. und Hitler trat überraschend wieder zutage: Südosterweiterung des Einflussgebiets. Noch einmal erwies sich die Politik der zweiten Linie hinter der Führungsmacht USA als nützlich.

Jetzt, seit 2022, könnte das vielleicht nicht mehr gelten. Unter der Ampelregierung folgt Deutschland zwar Joseph Bidens Konfrontationskurs gegen Russland, aber zumindest ein wirtschaftlicher Nutzen ist so recht nicht absehbar, im Gegenteil. Von Helmut Kohl über Schröder bis Angela Merkel (bei näherem Zusehen schon seit viel längerer Zeit) war der Bezug wohlfeiler Energierohstoffe aus dem Osten eine der Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs für die Bundesreplik. Mit ihrer Beteiligung am Wirtschaftskrieg an der Seite der USA fiel das weg. Zuweilen wird an ein Diktum eines ehemaligen Generalsekretärs des Nordatlantikpakts, des Briten Hastings Lionel Ismay, erinnert: »NATO’s aim is to keep the Russians out, the Germans down and the Americans in.« Das Ziel dieses Militärbündnisses sei, die Russen draußen, die Deutschen unten und die USA drin zu behalten. Den Menschen in Ost- und Südeuropa, die bisher von der BRD-Dominanz Nachteile hatten, könnte das gefallen.

Akkumulation und Migration

Ein zweiter Standortvorteil der Bundesrepublik von Anfang an war der ständige Zufluss kostengünstiger Arbeitskraft durch Immigration. Auch er hat eine lange Vorgeschichte. Schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik wurden teils saisonal, teils auf Dauer Menschen u.a. aus Polen eingesetzt. Zwangsarbeit in der NS-Zeit folgte darauf. Seit 1945 kamen Geflüchtete und Vertriebene aus den verlorenen Ostterritorien des untergegangenen Reichs in sämtliche Besatzungszonen, danach aus der DDR in die BRD. Mitte der fünfziger Jahre reichte das nicht mehr aus, sogenannte Gastarbeiter wurden in Südeuropa, später auch in der Türkei angeworben. Die Bundesrepublik war zum europäischen Akkumulationszentrum geworden. In Marxscher Terminologie: Es handelte sich um »Attraktion« von Arbeit durch Kapital. Ab Mitte der Siebziger wurde sie durch »Repulsion« (ebenfalls Marx) ersetzt. Das Kapital fragte weniger Arbeitskraft nach und versuchte sich eher an spekulativer Selbstvermehrung an den Börsen. Geblieben war und jetzt gesteigert wurde das Elend von Menschen in den von den Zentren ruinierten und abgehängten Ländern des Südens. Die nunmehr Unerwünschten, die weiterhin nach Norden wollten, wurden von Teilen der Alteingesessenen als Gefahr für ihr eigenes Wohlergehen angesehen. Der Aufstieg chauvinistischer und fremdenfeindlicher Bewegungen und Parteien begann und setzt sich immer weiter fort.

Dritte Kraft voraus?

Es fragt sich, ob eine Teilnahme der Bundesrepublik am zweiten Kalten Krieg, den die USA seit Obama gegen China angebahnt haben und der sich 2022 um einen Nebenschauplatz in der Ukraine erweitert hat, ebenso zuträglich ist wie ihre Stellung im ersten. Die Konfrontation mit Russland an der Seite der Vereinigten Staaten sieht, anders als bisher, nicht wie die Voraussetzung weiterer Selbstentfesselung aus. Teilnahme an der Konfrontation mit China passt vollends nicht zu dem, was man so das deutsche Interesse (einschließlich desjenigen des Kapitals) nennt.

In dieser Situation blühen Phantasien: eine von der BRD und Frankreich geführte EU oder auch Deutschland allein, als selbständiger Block zwischen den Kontrahenten USA und China/Russland. Die deutschnationale Variante gefällt der AfD, auf die westeuropäische hoffen Teile der Friedensbewegung.

Wer das weiterdenkt, wird gefragt werden, woher der dritte Block die militärische Macht zur Realisierung eines solchen Anspruchs nehmen will. Die Antwort gibt Boris Pistorius: gigantische Aufrüstung. Die erfolgt gegenwärtig nach Aufforderung durch die USA, also in Fortsetzung der nunmehr 75jährigen Westbindung. Ein künftiger Ausbruch aus dieser könnte zu einer neuen Weltordnung führen, die schon einmal da war, also eine alte ist: imperialistische Multipolarität wie vor 1914, jetzt mit Atomwaffen und ergänzt um den sogenannten globalen Süden, dem eine Kraft zur Friedensstiftung zugetraut wird, die der Norden bislang nicht aufbrachte.

Bei der Suche nach Auswegen aus dieser Lage reichen Feierlichkeiten im Rückblick auf 75 Jahre sogenannter Erfolgsgeschichte offenbar nicht aus.

Anmerkungen

1 Siehe Reinhard Opitz (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900–1945, 2. Aufl., Bonn 1993

2 Die Septemberdenkschrift Bethmann Hollwegs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 19/63, S. 41–44, hier: S. 43

Georg Fülberth schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. August 2022 über den marxistischen Ökonomen Jürgen Kuczynski.

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