Todesfalle »Stuttgart 21«
Von Ralf Wurzbacher![5.jpg](/img/450/195198.jpg)
Heiße Eisen fasst man besser nicht an – weiß der Volksmund. Was aber, wenn für Tausende Menschen buchstäblich Verbrennungsgefahr besteht? Bei der Deutschen Bahn (DB) lässt man trotzdem die Finger davon, beziehungsweise wohl genau deshalb. Der Vorwurf der Kritiker wiegt schwer: Das Brandschutzkonzept für »Stuttgart 21« (S21) ist mangelhaft: Im Unglücksfall drohten die zum künftigen Tiefbahnhof in Baden-Württembergs Landeshauptstadt führenden Tunnel zur »Todesfalle« zu werden. Die im »Aktionsbündnis gegen S21« Organisierten haben dafür reichlich belastendes Material vorgelegt, schon wiederholt, zuletzt im April. Und sie haben von den Verantwortlichen bei der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH (PSU) in einem offenen Brief Aufklärung zu einer Reihe von Fragen verlangt.
Auf eine Antwort warten die Initiatoren bis heute vergebens. Christoph Engelhardt, Physiker und Gründer des Faktencheckportals Wikireal.org, hat ein »nie dagewesenes komplettes Abtauchen der PSU erleben müssen«, wie er am Mittwoch junge Welt sagte. »Das spricht absolut nicht dafür, dass man unsere Kritik entkräften kann.« Auch jW hat beim Staatskonzern nachgehakt, dreimal schon. Einmal hieß es, zur »Korrespondenz mit Dritten« äußere man sich nicht, am Mittwoch dann, man habe dem »nichts hinzuzufügen«.
In Wahrheit äußert man sich gar nicht, man mauert, sitzt aus und hofft, dass die Sache keine Kreise zieht. Aber die Projektgegner lassen nicht locker. Nun haben sie mit einem offenen Brief an den Präsidenten des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA), Stefan Dernbach, nachgelegt. Die Behörde ist die »letzte Instanz« in puncto Brandschutz und Wächterin über die sogenannte Tunnelrichtlinie, der gemäß bei einer Feuerkatastrophe die »Selbstrettung« der Zuginsassen und des Zugpersonals gewährleistet sein muss.
Das Schreiben an Dernbach listet alle wesentlichen Knackpunkte auf: Die Tunnelröhren seien aus Kostengründen viel zu schmal geraten, sie verrauchten doppelt so schnell wie von der Bahn angenommen, das Risiko zu ersticken sei »um den Faktor 16 größer als üblich«. Kein Zugtyp habe eine Chance auf rechtzeitige Evakuierung, »nicht einmal ein Schienenbus«. Das ergebe sich im »Worst-Credible-Scenario«, das laut EBA maßgebend sei. Die Macher dagegen hätten mit »Best-Case-Szenarien« operiert, etwa dem, »dass ein Zug exakt mittig zwischen zwei Notausgangsquerschlägen zum Stehen kommt«.
Obendrein hat ein Bahn-Sprecher jüngst die steile These aufgestellt, das S21-Sicherheitskonzept sei »von der Art der eingesetzten Züge unabhängig«. Ergo sei es »unerheblich«, ob zehn oder 3.681 Personen zu evakuieren seien, heißt es in dem Brief an den EBA-Chef. Wegen des Ausbleibens von Antworten müsse man allerdings davon ausgehen, »dass es keine Belege für eine hinreichende Wirksamkeit dieses universellen Brandschutzkonzepts gibt« oder anders: »die Bahn ist vollkommen blank«.
Angesichts dieser Ausgangslage müsse Dernbach einen »sofortigen Baustopp« für S21 verfügen, folgern die DB-Kritiker. Denn bei geltenden Standards sei eine Inbetriebnahme nicht zu verantworten, ebenso wenig sei zu rechtfertigen, dass weitere Milliardensummen an Steuergeld »absehbar in eine Bauruine investiert werden«. Werde der Aufforderung nicht unmittelbar Folge geleistet, müsse man darauf bestehen, innerhalb von zwei Wochen wenigstens Antworten zum bisher von der PSU ignorierten Fragenkatalog zu erhalten.
Eine gesetzliche Verpflichtung des EBA zum Schutz der Allgemeinheit hatte im vergangenen Herbst der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg festgestellt. Die Richter wiesen dabei einen Antrag zum mangelnden Brandschutz lediglich wegen fehlender Klagebefugnis und im Vertrauen darauf ab, die Bundesbehörde sei bei Erteilung der Baugenehmigung ihren Pflichten nachgekommen. Das erscheint angesichts der offenbar unerfüllten Vorgaben der hauseigenen »Tunnelrichtlinie« zumindest zweifelhaft. Ein Einlenken hieße folglich auch, eigene Verfehlungen einzuräumen. Bisher hat die EBA noch stets so getan, als laufe bei S21 alles regelgemäß. Prognose: Dabei bleibt es.
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Eine weitere Feststellung war, dass der Durchschnittsdeutsche die Demokratie nicht verstanden hat. Demokratie braucht jedoch Demokraten. Ende der neunziger Jahre war ich der Einzige in unserem SPD-Ortsverein, der für Stuttgart 21 als zukunftsweisendes Projekt gestimmt hat. Alle anderen hatten zahlreiche Bedenken, obwohl sie im Gegensatz zu mir keine Fachkenntnisse hatten. (Ich bin Bauingenieur.) So geschah es, dass das Projekt, das 1994 gewonnen hat, bis heute nicht fertig ist. In einer Scheindemokratie wollten alle mitreden, obwohl sie weder einen umfassenden Überblick noch Fachwissen hatten. Unendliche, sinnlose Debatten waren die Folgen!
Die Schwaben hatten wohl Angst, von ihrer eigenen Volkstradition eingeholt zu werden, wie in der Anekdote, als sie ein neues Rathaus bauten und vergaßen, Fenster einzuplanen. Als das Rathaus fertiggestellt war, bemerkten sie, dass es drinnen dunkel war. Sie überlegten, wie sie das Problem lösen könnten, und einer kam auf die Idee, das Licht von draußen mit Säcken ins Rathaus zu tragen. So verstanden war ungefähr der tiefgelegte Bahnhof mit dem Tunnelsystem.
Heute haben die Ahnungslosen, darunter auch Journalisten, ein Problem mit dem Brandschutz. Hatten wir als Deutsche nicht unlängst in BER dasselbe Problem? Doch das ist nicht das eigentliche Problem. Das wahre Problem ist, dass auch die Brandschutzexperten Fachidioten und dazu Machtmenschen sind. Sie fühlen sich verpflichtet, in ihrem Fachwissen zu versinken und bestehen darauf, dass nur nach ihrer Erlaubnis »geschissen« werden darf.
Die Demokratie ist nicht für Durchschnittsbürger gedacht. Man sollte nur diejenigen fragen, die wirklich Ahnung haben, und die Entscheidung sollte nur von denen getroffen werden, die den gesamten Überblick haben. Sonst ist man den Schwätzern und »Fachidioten« ausgeliefert, die versuchen, ihre falsch verstandenen demokratischen Rechte auszunutzen und zu missbrauchen!