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Aus: Ausgabe vom 23.05.2024, Seite 5 / Inland
»Stuttgart 21«

Todesfalle »Stuttgart 21«

Mögliche Brandschutzmängel: Gegner von Bahnhofsprojekt verlangen Aufklärung. Eisenbahn-Bundesamt könnte hauseigene Richtlinie verletzen
Von Ralf Wurzbacher
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Hohe Erstickungsgefahr: Die Tunnelröhren sind viel zu schmal, bemängeln S21-Kritiker

Heiße Eisen fasst man besser nicht an – weiß der Volksmund. Was aber, wenn für Tausende Menschen buchstäblich Verbrennungsgefahr besteht? Bei der Deutschen Bahn (DB) lässt man trotzdem die Finger davon, beziehungsweise wohl genau deshalb. Der Vorwurf der Kritiker wiegt schwer: Das Brandschutzkonzept für »Stuttgart 21« (S21) ist mangelhaft: Im Unglücksfall drohten die zum künftigen Tiefbahnhof in Baden-Württembergs Landeshauptstadt führenden Tunnel zur »Todesfalle« zu werden. Die im »Aktionsbündnis gegen S21« Organisierten haben dafür reichlich belastendes Material vorgelegt, schon wiederholt, zuletzt im April. Und sie haben von den Verantwortlichen bei der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH (PSU) in einem offenen Brief Aufklärung zu einer Reihe von Fragen verlangt.

Auf eine Antwort warten die Initiatoren bis heute vergebens. Christoph Engelhardt, Physiker und Gründer des Faktencheckportals Wiki­real.org, hat ein »nie dagewesenes komplettes Abtauchen der PSU erleben müssen«, wie er am Mittwoch junge Welt sagte. »Das spricht absolut nicht dafür, dass man unsere Kritik entkräften kann.« Auch jW hat beim Staatskonzern nachgehakt, dreimal schon. Einmal hieß es, zur »Korrespondenz mit Dritten« äußere man sich nicht, am Mittwoch dann, man habe dem »nichts hinzuzufügen«.

In Wahrheit äußert man sich gar nicht, man mauert, sitzt aus und hofft, dass die Sache keine Kreise zieht. Aber die Projektgegner lassen nicht locker. Nun haben sie mit einem offenen Brief an den Präsidenten des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA), Stefan Dernbach, nachgelegt. Die Behörde ist die »letzte Instanz« in puncto Brandschutz und Wächterin über die sogenannte Tunnelrichtlinie, der gemäß bei einer Feuerkatastrophe die »Selbstrettung« der Zuginsassen und des Zugpersonals gewährleistet sein muss.

Das Schreiben an Dernbach listet alle wesentlichen Knackpunkte auf: Die Tunnelröhren seien aus Kostengründen viel zu schmal geraten, sie verrauchten doppelt so schnell wie von der Bahn angenommen, das Risiko zu ersticken sei »um den Faktor 16 größer als üblich«. Kein Zugtyp habe eine Chance auf rechtzeitige Evakuierung, »nicht einmal ein Schienenbus«. Das ergebe sich im »Worst-Credible-Scenario«, das laut EBA maßgebend sei. Die Macher dagegen hätten mit »Best-Case-Szenarien« operiert, etwa dem, »dass ein Zug exakt mittig zwischen zwei Notausgangsquerschlägen zum Stehen kommt«.

Obendrein hat ein Bahn-Sprecher jüngst die steile These aufgestellt, das S21-Sicherheitskonzept sei »von der Art der eingesetzten Züge unabhängig«. Ergo sei es »unerheblich«, ob zehn oder 3.681 Personen zu evakuieren seien, heißt es in dem Brief an den EBA-Chef. Wegen des Ausbleibens von Antworten müsse man allerdings davon ausgehen, »dass es keine Belege für eine hinreichende Wirksamkeit dieses universellen Brandschutzkonzepts gibt« oder anders: »die Bahn ist vollkommen blank«.

Angesichts dieser Ausgangslage müsse Dernbach einen »sofortigen Baustopp« für S21 verfügen, folgern die DB-Kritiker. Denn bei geltenden Standards sei eine Inbetriebnahme nicht zu verantworten, ebenso wenig sei zu rechtfertigen, dass weitere Milliardensummen an Steuergeld »absehbar in eine Bauruine investiert werden«. Werde der Aufforderung nicht unmittelbar Folge geleistet, müsse man darauf bestehen, innerhalb von zwei Wochen wenigstens Antworten zum bisher von der PSU ignorierten Fragenkatalog zu erhalten.

Eine gesetzliche Verpflichtung des EBA zum Schutz der Allgemeinheit hatte im vergangenen Herbst der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg festgestellt. Die Richter wiesen dabei einen Antrag zum mangelnden Brandschutz lediglich wegen fehlender Klagebefugnis und im Vertrauen darauf ab, die Bundesbehörde sei bei Erteilung der Baugenehmigung ihren Pflichten nachgekommen. Das erscheint angesichts der offenbar unerfüllten Vorgaben der hauseigenen »Tunnelrichtlinie« zumindest zweifelhaft. Ein Einlenken hieße folglich auch, eigene Verfehlungen einzuräumen. Bisher hat die EBA noch stets so getan, als laufe bei S21 alles regelgemäß. Prognose: Dabei bleibt es.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (22. Mai 2024 um 23:53 Uhr)
    Wer ist denn klagebefugt? Eine an Rauchvergiftung Verstorbene bzw. deren ErbInnen?
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. Mai 2024 um 21:54 Uhr)
    Als ich nach Deutschland kam, stellte ich schnell fest, dass, wenn man einem deutschen Machtmenschen eine Toilette verpachtet, dort nur nach seinen Geschäftsbedingungen das »Geschäft« verrichtet werden kann und nicht nach den Bedürfnissen der Kunden. Das muss man berücksichtigen, wenn man hier leben will – Pech hat man nur, wenn man Durchfall hat.
    Eine weitere Feststellung war, dass der Durchschnittsdeutsche die Demokratie nicht verstanden hat. Demokratie braucht jedoch Demokraten. Ende der neunziger Jahre war ich der Einzige in unserem SPD-Ortsverein, der für Stuttgart 21 als zukunftsweisendes Projekt gestimmt hat. Alle anderen hatten zahlreiche Bedenken, obwohl sie im Gegensatz zu mir keine Fachkenntnisse hatten. (Ich bin Bauingenieur.) So geschah es, dass das Projekt, das 1994 gewonnen hat, bis heute nicht fertig ist. In einer Scheindemokratie wollten alle mitreden, obwohl sie weder einen umfassenden Überblick noch Fachwissen hatten. Unendliche, sinnlose Debatten waren die Folgen!
    Die Schwaben hatten wohl Angst, von ihrer eigenen Volkstradition eingeholt zu werden, wie in der Anekdote, als sie ein neues Rathaus bauten und vergaßen, Fenster einzuplanen. Als das Rathaus fertiggestellt war, bemerkten sie, dass es drinnen dunkel war. Sie überlegten, wie sie das Problem lösen könnten, und einer kam auf die Idee, das Licht von draußen mit Säcken ins Rathaus zu tragen. So verstanden war ungefähr der tiefgelegte Bahnhof mit dem Tunnelsystem.
    Heute haben die Ahnungslosen, darunter auch Journalisten, ein Problem mit dem Brandschutz. Hatten wir als Deutsche nicht unlängst in BER dasselbe Problem? Doch das ist nicht das eigentliche Problem. Das wahre Problem ist, dass auch die Brandschutzexperten Fachidioten und dazu Machtmenschen sind. Sie fühlen sich verpflichtet, in ihrem Fachwissen zu versinken und bestehen darauf, dass nur nach ihrer Erlaubnis »geschissen« werden darf.
    Die Demokratie ist nicht für Durchschnittsbürger gedacht. Man sollte nur diejenigen fragen, die wirklich Ahnung haben, und die Entscheidung sollte nur von denen getroffen werden, die den gesamten Überblick haben. Sonst ist man den Schwätzern und »Fachidioten« ausgeliefert, die versuchen, ihre falsch verstandenen demokratischen Rechte auszunutzen und zu missbrauchen!
    • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (23. Mai 2024 um 11:43 Uhr)
      Das Milliardengrab »Stuttgart 21« wurde von Anfang an nur aus zwei Gründen geschaufelt, nämlich, um (a) an die »Filet«-Grundstücke in bester City-Lage zu gelangen und (b) möglichst lange enorm viel Geld aus öffentlichen Kassen in private Taschen transferieren zu können. Mit Demokratie hat das nicht das Geringste zu tun. Apropos Demokratie: »Durchschnittsbürger«, »Schwätzer« und »Fachidioten« zählen nach Ihrer Definition ja ohnehin schon mal nicht dazu. Da wird es dann aber recht überschaubar in puncto »Demokraten«. Für eine solche »Elitokratie« ließen sich die meisten Parlamente dann allerdings mühelos bis auf die Ausmaße einer öffentlichen Toilette verkleinern, und die Demokratie wäre dann ja eh völlig im Arsch.
      • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (24. Mai 2024 um 10:31 Uhr)
        Wo leben Sie, Herr Hopp? Apropos Demokratie: Durchschnittsbürger, Schwätzer und Fachidioten zählen nach Ihrer Definition ja ohnehin schon mal nicht dazu. Wenn unsere Außenministerin nicht zwischen einer Drehung von 180 und 360 Grad unterscheiden kann, nicht weiß, wie viele Tage ein Jahr hat, behauptet, sie arbeite 560 Tage im Jahr, und öffentlich erklärt, dass sie die Meinungen ihrer Wähler nicht interessieren, ohne sich dafür zu entschuldigen oder gar zurückzutreten, dann ist sie nur die Spitze eines politischen Eisbergs. Nach einigen SPD-Debatten konnte ich in der Nacht nicht schlafen, weil sogar mir physisch weh tat, was ich dort alles hören musste. Wenn ich in den Schulbüchern meiner Enkelkinder blättere, frage ich mich oft, wie das deutsche Bildungsniveau so tief sinken konnte. Ich kenne Berlin und seine Sozialstruktur sehr gut und bin sicher, dass dort das Bildungsniveau auch nicht besser ist.
      • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (23. Mai 2024 um 14:32 Uhr)
        Bleiben wir zunächst beim Schienenverkehr. Im Stuttgarter Kopfbahnhof benötigen die ICE-Züge etwa 10–15 Minuten, um durch den Großraum Stuttgart zu fahren, wobei ihre Geschwindigkeit auf etwa 60 km/h reduziert wird, bevor sie zum Stehen kommen. Wozu erreichen die Züge dann Höchstgeschwindigkeiten von 250–300 km/h, wenn sie an Kopfbahnhöfen so viel Zeit verlieren? Dasselbe passiert beim Anfahren der Züge. Hinzu kommen noch die Standzeiten, während der Lokführer von hinten nach vorne wechselt. Diese Fahrtzeiten könnten mit einem modernen Durchgangsbahnhof auf die Hälfte reduziert werden. Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart planen, das Projekt durch die Erlöse aus den freigewordenen »staatlichen Bahngrundstücken« mitzufinanzieren. Im Gegensatz zu Ihrer idealisierten Meinung: »Apropos Demokratie: «Durchschnittsbürger», «Schwätzer» und «Fachidioten» zählen nach Ihrer Definition ja ohnehin schon mal nicht dazu.« – stütze ich mich auf meine im Westen gesammelten politischen Erfahrungen. Siehe dazu meine Antwortleserbrief! www.jungewelt.de/artikel/475814.standort-bundesrepublik-standort-hui-standort-pfui.html#Comments
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (22. Mai 2024 um 20:24 Uhr)
    Mindestens ebenso hoch wie die Erstickungsgefahr: Die Verzweiflungsgefahr, angesichts der permanenten Talfahrt dieses inzwischen zu einer »Bananenrepublik« verkommenen Landes.

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