»Manche wurden bereits mehrmals vertrieben«
Interview: Thomas Berger, JakartaIn Indonesiens Hauptstadt Jakarta leben nach offiziellen Angaben Hunderttausende in Armut. Wie groß ist das Problem tatsächlich?
Die offizielle Zahl der Armen betrug staatlichen Stellen zufolge im Jahr 2023 rund 400.000. Doch diese Angaben gehen schlicht an der Realität vorbei. Denn die Politik geht bei ihrer Zählung davon aus, dass jemand im Monat weniger als 700.000 Rupien (etwa 42 Euro, jW) zur Verfügung hat, um als arm zu gelten – oder zwei Millionen Rupien als Familie. Bei den Lebenshaltungskosten in Jakarta geht diese Rechnung aber nicht auf.
Schon wer mit zwei Millionen an dieser Obergrenze liegt, ist in der teuren Hauptstadt ganz arm dran. Bis acht Millionen Rupien gelten Menschen zudem in einer zweiten Kategorie offiziell als solche mit »kleinem Einkommen«. Sie haben einen gewissen Anspruch auf Unterstützung, meist in Form von Krediten für Wohnungen. Real werden diese Kredite aber kaum an Personen ausgereicht, die weniger als vier oder fünf Millionen Monatseinkommen haben. Denn man sagt sich, die könnten die Raten ohnehin nicht zurückzahlen.
Ihrer Organisation Urban Poor Consortium, UPC, ist mit dem Kampung Akuarium am südlichen Rande des Hafengebietes etwas Besonderes gelungen. Was ist die Vorgeschichte dieses sozialen Wohnkomplexes?
2016 war auf dieser Halbinsel eine Armensiedlung niedergewalzt worden. Die Menschen wollten sich aber nicht von ihrem Gelände vertreiben lassen, und so haben wir mit der Stadtverwaltung verhandelt. 2019 war schließlich der Baubeginn für den neuen, vom Staat finanzierten Sozialbau, der drei Jahre später bezugsfertig war. Ursprünglich zogen 93 Familien ein, inzwischen wohnen in dem mehrgeschossigen Gebäude 110 Familien.
Also ein echtes Vorreiterprojekt?
Das kann man so sagen. Tatsächlich war es das erste Mal in der indonesischen Geschichte, dass es so funktioniert hat, weil die Stadtregierung mitzog. Insgesamt drei solcher Projekte wurden mittlerweile fertiggestellt. 2027, fünf Jahre nach Unterzeichnung des Vertrags, geht der Block in das Eigentum der Kooperative über. Wenn das nach und nach bei allen drei Projekten so erfolgt, ist das ein großer Schritt in die Zukunft.
Wie schwierig ist es, die Politik für solche Lösungen zu gewinnen?
Sehr mühsam. Ein Problem ist, dass in der Regel alle fünf Jahre die Regionalregierungen wechseln und jeder sich von seinem Vorgänger absetzen will. Planungen reißen da ab, Kontinuität gibt es kaum. Die dunkelste Zeit in Jakarta für Wohnrechte war 2014 bis 2017. Der damalige Gouverneur hat die Armen nur als Belastung gesehen, da gab es viele Vertreibungen. Er war nicht bereit, auf Proteste und Lösungsansätze der Zivilgesellschaft einzugehen. Unter seinem Nachfolger Anies Baswedan bis 2022 (unterlegener Präsidentschaftskandidat im März, jW) hat sich das gebessert. Der aktuelle Interimsgouverneur ist aber leider wieder von ganz anderem Schlag.
Was bedeutet »Kampung«?
Das Wort bezeichnet im Ursprung soviel wie Dorf. Es ist eine lokale Gemeinschaft, die ganz eng zusammensteht. Die Menschen zu aktivieren, sich tatsächlich für ihre Rechte starkzumachen, ist aber nicht ganz einfach. Manche sind schon vier- oder sechsmal vertrieben worden, weil immer wieder die Bulldozer kamen. Wir als UPC klären über Grundrechte auf, haben das Ziel, viele lokale Kooperativen aufzubauen und das Selbstbewusstsein der Leute zu stärken. Das braucht aber seine Zeit. Kampung bedeutet für den einzelnen Sicherheit durch eine starke Gemeinschaft.
Wie groß ist der Druck auf die Armenviertel?
Der ist massiv. Gerade im Norden Jakartas, wo auch das Kampung Akuarium steht, sind die Landentwickler besonders gierig. Und es gibt nur ganz wenige Flächen in öffentlicher Hand. Zudem reicht das geringe Budget im städtischen Haushalt, das es für Sanierung von Mietshäusern gibt, mit nur sieben Milliarden Rupien (etwa 400.000 Euro, jW) überhaupt nicht.
Gugun Mohammad ist Aktivist der 1997 gegründeten Organisation Urban Poor Consortium (UPC) in Jakarta, die sich für die Rechte der ärmeren Teile der Stadtbevölkerung einsetzt
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