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Aus: Ausgabe vom 21.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukraine-Krieg

Heldenklau angelaufen

Zwei Tage nach Inkrafttreten des neuen ukrainischen Mobilisierungsgesetzes schon 95.000 Männer zur Fahndung ausgeschrieben
Von Reinhard Lauterbach
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Neue Rekruten der ukrainischen Armee bei einer militärischen Übung in der Region Donezk (11.5.2024)

In der Ukraine ist am vergangenen Sonnabend das verschärfte Mobilisierungsgesetz in Kraft getreten. Schon zwei Tage danach sind nach Angaben des ukrainischen Portals »obozrevatel.ua« mindestens 95.000 Männer zur Fahndung ausgeschrieben worden, weil sie Einberufungsbefehlen nicht Folge geleistet haben sollen. Der Bericht beruft sich auf unvollständige Zahlen der ukrainischen Polizei. Demnach wird allein im Gebiet Dnipropetrowsk nach 38.282 Männern gefahndet, von denen inzwischen etwa 5.500 gefasst und den Wehrersatzbehörden zugeführt worden seien. Die genannten Zahlen – die, wie gesagt, unvollständig sind – bedeuten, dass sich vermutlich mindestens die Hälfte der 250.000 Männer, die die ukrainischen Streitkräfte angefordert haben, der Einberufung zu entziehen sucht.

In Kiew beschwerten sich Einberufene darüber, dass ihnen beim Betreten der Kasernen ihre Telefone abgenommen würden, so dass sie keinerlei Kontakt zu ihren Angehörigen aufnehmen könnten. Ein IT-Unternehmer beklagte sich auf Facebook darüber, dass ihm ein 50jähriger habilitierter Mitarbeiter von der Straße weg eingezogen worden sei, ohne dass er auch nur Gelegenheit gehabt hätte, persönliche Habseligkeiten von zu Hause abzuholen oder berufliche Dokumente an das Unternehmen zurückzugeben. Russische Medien zitierten Aussagen ukrainischer Kriegsgefangener, wonach sie nur eine Woche ausgebildet worden seien, bevor man sie an die Front geschickt habe.

Durchhaltebefehle

Der französische Sender Europe 1 zitierte am Freitag französische und ukrainische Militärs mit der Aussage, dass die meisten ukrainischen Verbände auf 40 Prozent ihrer Sollstärke zusammengeschmolzen seien; manche ukrainischen Angaben zu den Iststärken liegen noch deutlich niedriger. Die ukrainische Wochenzeitung Zerkalo Nedeli brachte ein Interview mit einem ukrainischen Militärarzt mit dem Kampfnamen »Ronin«. Beide Quellen sprechen davon, dass die ukrainischen Fronttruppen von einer Desertionswelle gerade frisch eingezogener Soldaten heimgesucht würden. Selbst die Offiziere hätten für dieses Verhalten oft Verständnis und versuchten, solche Fälle von »eigenmächtiger Entfernung« im Gespräch mit den Soldaten gütlich beizulegen. Die Offiziere an der Front, so »Ronin«, wüssten oft selbst nicht, wie sie mit ihren ausgelaugten und nur unzureichend ausgebildeten Truppen den von oben kommenden Durchhaltebefehlen nachkommen könnten.

Wie ernst der Mangel an Soldaten die ukrainische Armee offenbar in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt, geht indirekt aus einem Artikel in der New York Times vom Freitag hervor. Der Beitrag schildert, wie nach Auffassung hoher US-Militärs die NATO bald nicht darum herumkommen werde, eigene Soldaten als Ausbilder in die Ukraine zu schicken. Denn das ukrainische Militär habe beklagt, die Transporte der auszubildenden ukrai­nischen Soldaten auf die NATO-Truppenübungsplätze in Polen oder Deutschland dauerten zu lang. Der Ukrai­ne liege daran, die Soldaten nach dem Training rasch in den Kampf schicken zu können. Wenn aber die vielleicht eine Woche, die der Transport einer Militäreinheit nach zum Beispiel Grafenwöhr und zurück braucht, so einen Unterschied machen soll, muss die Lage an der Front wirklich dramatisch sein.

Westliche Truppen

Nach Angaben der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas sind bereits jetzt Ausbilder aus verschiedenen NATO-Staaten in der Ukraine aktiv. Kallas vertrat gegenüber der Financial Times die Auffassung, die westlichen Entsendeländer würden es eher nicht zum Anlass für die Ausrufung des »Bündnisfalles« nehmen, wenn diesen Ausbildern in der Ukraine etwas zustoßen sollte. Die frühere US-Außenstaatssekretärin Victoria Nuland warnte im Sender ABC vor der Entsendung von Ausbildern in die Ukraine, weil dies die Gefahr einer Eskalation berge. Sie bezeichnete in dem Interview übrigens Charkiw als »russische Stadt«. Ob es nur ein Lapsus linguae war, ist natürlich im nachhinein nicht festzustellen.

Das am Sonnabend in Kraft getretene ukrainische Mobilisierungsgesetz vereinfacht die Einberufung aller Männer zwischen 18 und 60 Jahren und droht denen, die sich nicht zur »Aktualisierung ihrer Angaben« melden, mit Geld- und im Wiederholungsfall Haftstrafen, außerdem mit der Sperrung ihrer Bankkonten und der Konfiskation ihrer Autos. Gleichzeitig veröffentlichen ukrainische Medien Interviews mit Männern, denen die Flucht vor der Einberufung gelungen ist. Die Texte sind im Grunde Merkblätter, was man auf der mehrtägigen unfreiwilligen Wanderung durch die Karpaten nach Rumänien tun bzw. lassen sollte, wenn man sich zum Beispiel entschließe, der Einberufung zu entgehen: vorher ausgiebig längere Märsche mit dem Rucksack trainieren, Ersatzschuhwerk mitnehmen und offizielle Wanderwege und Kahlschläge meiden, weil sie mit Drohnen überwacht würden. Aus dem ukrainisch-rumänischen Grenzfluss Tisa (Theiß) werden immer wieder die Leichen ukrainischer Männer geborgen, die versucht hatten, schwimmend das rumänische Ufer zu erreichen.

Hintergrund: Beschuss auf beiden Seiten

Bei einem russischen Raketenangriff auf ein Naherholungsgelände am Stadtrand von Charkiw sind am Sonnabend offenbar fünf Menschen getötet und elf verletzt worden. Die örtliche Polizei veröffentlichte Bilder zerstörter Karusselle und Grillhütten. Nach ihren Angaben schlugen zwei »Iskander«-Raketen auf dem Gelände ein. Eine russische Stellungnahme zu dem Vorfall fehlte bis zum Montag.

Beide Kriegsparteien beschossen am Wochenende Ziele im Hinterland des Gegners mit Raketen und Drohnen. Dabei wurde offenbar eine Ölraffinerie im russischen Bezirk Krasnodar im Kaukasusvorland so stark beschädigt, dass sie den Betrieb einstellen musste. Russland behauptete seinerseits, in Odessa ein Lagerhaus für westliche Waffen zerstört zu haben. Zu überprüfen sind diese Aussagen nicht, weil die Ukraine in der Regel keine genauen Angaben zu den Zielen russischer Angriffe macht, sondern nur Erfolgsmeldungen über die Zahl abgeschossener gegnerischer Drohnen und Raketen herausgibt. Auch diese sind nicht überprüfbar.

Von der Front berichtete die dem ukrainischen Generalstab nahestehende Seite »deepstatemap.live« von russischen Geländegewinnen nördlich von Charkiw und um die Stadt Wowtschansk weiter östlich. Im Unterschied dazu hatte Präsident Wolodimir Selenskij in seiner täglichen Videoansprache am Sonntag erklärt, die russische Offensive sei »zum Stehen gebracht« worden. In der seit längerem umkämpften Stadt Tschassiw Jar westlich von Awdijiwka sind offenbar Häuserkämpfe im Gang. Aus Berichten russischer Frontkorrespondenten geht unausgesprochen hervor, dass sich die ukrainischen Truppen offenbar hartnäckiger verteidigen, als von russischer Seite erwartet.

Unterdessen wurde am Wochenende offenbar die zweitgrößte Gaskompressoranlage Europas nahe Lwiw durch einen russischen Raketenangriff zerstört. Die Anlage gehört zu einem unterirdischen Erdgasspeicher nahe der Stadt Stryj. Nach Angaben des ukrainischen Abgeordneten Ilja Kutscherenko sind inzwischen die ukrainischen Wärmekraftwerke zu 90 Prozent zerstört. Entsprechend wurden für die kommenden Tage regelmäßige Stromabschaltungen in den Abendstunden angekündigt. (rl)

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  • Leserbrief von Klaus Otto aus Jena (21. Mai 2024 um 14:39 Uhr)
    Leserbrief von Klaus Otto aus Jena (mr@jungewelt.de) zu dem Artikel "Pleite mit Ansage: »Friedensgipfel« in der Schweiz ohne Staatschefs der BRICS-Staaten" (www.jungewelt.de/artikel/475654.krieg-in-der-ukraine-pleite-mit-ansage-friedensgipfel-in-der-schweiz-ohne-staatschefs-der-brics-staaten.html):

    Ein schneller Frieden in der Ukrain ist möglich. Der Krieg in der Ukraine fordert blutige Opfer, zerstört das Land und verschlingt Milliarden an Kosten. Einige Monate nach dem Beginn dieses Krieges zeichnete sich jedoch eine Möglichkeit ab, ihn zu beenden. Am 15. April 2022 legten ukrainische und russische Unterhändler den Entwurf eines Friedensvertrages zwischen diesen Ländern vor. Er enthielt folgende Hauptpunkte:
    – sofortige Beendigung des Krieges
    – Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine
    – kein ausländisches Militär in der Ukraine, vor allem nicht die NATO
    – Gewährleistung der staatlichen Souveränität der Ukraine: einem Beitritt zur EU steht nicht im Wege
    – weitere Verhandlungen nach dem Abschluss des Vertrages über noch offene strittige Fragen.
    Putin ist also verhandlungsbereit und nicht an einer Rückgewinnung ehemals zur Sowjetunion gehörender Länder interessiert. Wenig später besuchte der britische Premierminister Johnson Kiew. Er machte Selenskij klar, die abendländischen Länder lehnen diesen Vertrag ab. Sie forderten Fortführung des Krieges bis zur militärischen Niederlage Russlands. (Es sei aus historischer Sicht bemerkt, dass man damit der Ukraine eine Aufgabe zugewiesen hat, an der die Armeen Napoleons, des deutschen Kaiser und auch Adolf Hitlers gescheitert sind. Das seither vergossene Blut klebt auch an den Händen all der abendländischen Staatsmänner, die das unterstützt und geduldet haben). Hauptinteressent und wichtigster Nutznießer dieser friedensfeindlichen Initiative ist das große Geld der USA, repräsentiert durch Biden: Russland als wichtigster Verbündeter Chinas soll niedergerungen oder wesentlich geschwächt werden, dann kann man sich voll auf die Auseinandersetzung mit der Volksrepublik konzentrieren. Damit ist auch eine Schwächung der EU und vor allem Deutschlands verbunden. Die Ukraine-Hilfen und die gestiegenen Rüstungskosten belasten seinen Haushalt, es zählt zu den wenigen Ländern mit rückläufiger Wirtschaftsentwicklung, vor allem wegen der hohen Energiepreise wandern Industriebetriebe ab, der Export ist gesunken.
    Der baldige Frieden in der Ukraine ist also dringend notwendig, aber nur möglich, wenn es gelingt, das Diktat der USA über die EU und die Regierungen aller ihr angehörigen Staaten zu brechen. Dazu muss der Kampf für wirtschaftliche und soziale Forderungen eng mit dem für Frieden, für eine diplomatische Lösung im Ukraine-Krieg verbunden werden. (…)
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (20. Mai 2024 um 22:00 Uhr)
    Ergänzend zum Artikel noch eine sehr wichtige Information: Niemand kennt die genaue Stärke der ukrainischen Streitkräfte an der Front, nicht einmal die eigene Militärführung. Im Artikel wird eine Zahl genannt: »Die meisten ukrainischen Verbände sind auf 40 Prozent ihrer Sollstärke zusammengeschmolzen; manche ukrainischen Angaben zu den Ist-Stärken liegen noch deutlich niedriger.« Die tatsächliche Stärke schätzen die transkarpatischen ungarischen Journalisten noch pessimistischer ein, aus folgenden Gründen: Nur vorhandene Leichen durften als Tote erklärt werden. Alle anderen vermissten Soldaten gelten offiziell als vermisst. Aus Solidarität wird über die Toten Stillschweigen bewahrt, was sich als »gutes Geschäft« erweist, da so weiterhin die Gehälter der gefallenen Soldaten kassiert werden können, unabhängig davon, von wem und wo.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (20. Mai 2024 um 20:18 Uhr)
    Das die gute Frau »fuck the EU« ihrer Zeit schon immer etwas voraus war, beweist ja eben jener Spruch.

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