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Aus: Ausgabe vom 18.05.2024, Seite 2 / Inland
Berufsverbote

»Da ist nur von ›Extremisten‹ die Rede«

75 Jahre Grundgesetz: Betroffene von Berufsverboten warnen vor Neuauflage des »Radikalenerlasses«. Ein Gespräch mit Werner Siebler
Interview: Gitta Düperthal
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35.000 Menschen demonstrierten am 31. März 1979 in Bonn gegen die Berufsverbote

Kommende Woche wird das Inkrafttreten des Grundgesetzes vor 75 Jahren gefeiert werden. Ein Anlass für Betroffene des sogenannten Radikalenerlasses von 1972, am kommenden Mittwoch auf dem Bonner Münsterplatz gegen die Verletzung ihrer Grundrechte zu protestieren und eine Rehabilitierung sowie Entschädigung zu fordern. Wie betraf Sie persönlich das Berufsverbot?

Ich war seit 1970 Briefträger bei der Bundespost. Weil ich zur Kommunalwahl für die DKP kandidiert hatte, Vorträge bei der marxistischen Arbeiterbildung hielt und in die DDR gefahren war, wurde 1982 ein Disziplinarverfahren gegen mich eingeleitet. 1984 wurde ich aus dem Beamtenverhältnis entlassen. Weil ich damals noch nicht 27 Jahre alt war, war ich Beamter auf Probe. Nach dem Verfahren gegen die beiden Postbeamten Hans Peter und Hans Meister vor dem Bundesverwaltungsgericht hieß es: Wenn Beamte auf Lebenszeit wegen solcher Vorwürfe rausfliegen, müsse es einer auf Probe erst recht. So läuft es auch nach dem seit 1. April dieses Jahres geltenden Bundesdisziplinarrecht, das Bundesinnenministerin Nancy Faeser begeistert vorgestellt hatte. Stellt der Dienstherr fest, dass ein Betroffener nicht die Gewähr der Verfassungstreue bietet, kann der Betroffene erst im nachhinein dagegen klagen. Alles wie damals: Ich erhielt kein Arbeitslosengeld, weil ein Beamter nicht arbeitslosenversichert ist. Ich musste darum kämpfen.

Sie argumentieren, der sogenannte Radikalenerlass sei verfassungswidrig gewesen. Worauf stützen Sie sich dabei?

Zwar bestätigte das Bundesverfassungsgericht 1975 das Recht der Behörden, im Einzelfall so vorzugehen. 1995 aber gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Lehrerin Dorothea Vogt recht, die entlassen worden war, weil sie DKP-Mitglied war. Dies verstoße gegen das Recht auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Klägerin musste wiedereingestellt, entgangene Dienstbezüge samt Pensionsansprüchen nachgezahlt werden. Nachdem die Internationale Arbeitsorganisation ILO festgestellt hatte, dass Berufsverbote gegen das Übereinkommen 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf verstoßen, gab es solche Fälle nicht mehr. Mit Ausnahme im Fall von Dorothea Vogt erfolgte offiziell aber weder eine Entschädigung, noch Rehabilitierung – nicht mal eine Entschuldigung.

Eine entsprechende Neuregelung des Beamtenrechts findet nun auch in Brandenburg statt. Zur Begründung wird vor allem auf Neonazis im Staatsdienst verwiesen, die es von dort zu entfernen gelte.

Wir sind gegen dieses »Verfassungstreuecheck«-Gesetz, das mit Stimmen von SPD und Grünen verabschiedet wurde. Zwar heißt es, es solle sich gegen die Gefahr des Rechtsextremismus wenden, im Gesetz ist aber nur von »Extremisten« die Rede. Bei dem Landesgesetz und Faesers Vorstoß geht es um eine Beweislastumkehr. Nach Hinweis der Behörde kann der Betroffene per Verwaltungsakt entlassen werden, muss dann selber dagegen klagen. Er muss nachweisen, dass er kein Verfassungsfeind ist. Wer als solcher zu verstehen ist, fällt unter die Definition des Verfassungsschutzes. Dem stand vor wenigen Jahren noch Hans-Georg Maaßen als Präsident vor! So liefert der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke ständig Belege, dass er extrem rechts ist. Es liegen zu dem beurlaubten Geschichtslehrer dokumentierte Gesetzesverstöße vor. Aber unternommen wird nichts. Beim Radikalenerlass hieß es damals, dieser solle sich gegen Rechte und Linke richten. Letztlich tatsächlich betroffen waren aber überwiegend nur Linke und Progressive.

Wie soll aus Ihrer Sicht der Spagat gelingen, faschistische Kräfte nicht im Staatsdienst Fuß fassen zu lassen, und zugleich zu verhindern, dass der Staat gegen Linke vorgeht?

Wollte man gegen Rechtsextremismus vorgehen, könnte man sich auf Paragraph 139 Grundgesetz, also die Fortgeltung der Entnazifizierungsvorschriften beziehen. Per Verwaltungsakt könnte man Konsequenzen ziehen. Wäre das politisch gewollt gewesen, hätte man es explizit ins Gesetz hineinschreiben können – hat man aber nicht. Spricht man nebulös von Extremisten, gehört nicht viel Phantasie dazu: Wir sind gemeint!

Werner Siebler ist Sprecher des Bundesarbeitsausschusses der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung demokratischer Grundrechte

Kundgebung am Mittwoch, 22. Mai, um 15 Uhr auf dem Bonner Münsterplatz.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Klaus Emmerich (21. Mai 2024 um 12:00 Uhr)
    Das GG stellt in seiner Präambel nach Aufzählung der Länder fest, dass »die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet« ist. Der Artikel 146 beruft sich auf diese Formulierung und macht deutlich, das GG »verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist«.
    Als Staatsbürger der BRD traue ich mir zu, zu behaupten, dass wir in dem neuen, wiedervereinigten Deutschland bisher keine Verfassung haben. Das Grundgesetz für die BRD, und nicht eine Verfassung, hat nunmehr sein 75jähriges Jubiläum. Also keine »Verfassungstreue« oder »verfassungswidrig«. Beachtet sollte auch werden, dass das GG keine Paragraphen, sondern nur Artikel kennt.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred P. aus Hamburg (21. Mai 2024 um 19:56 Uhr)
      Das GG ist strenggenommen nicht mal ein Gesetz im bürgerlichen Sinne. Gesetze werden von Parlamenten erlassen, die in ihrer personellen Zusammensetzung von gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentariern gebildet sind. So auf der kommunalen, Länder- und Bundesebene. Der Parlamentarische Rat ist dagegen ein von den damaligen Westalliierten »verordnetes« Gremium gewesen, das lediglich für die Westzonen Gültigkeit beanspruchen konnte – die SBZ war ausgeschlossen. Mit seinen ca. 70 Änderungen inklusive Notstandsgesetzen gleicht es heute eher einem Schweizer Käse statt in seiner ursprünglich (von den Westalliierten) beabsichtigten bürgerlich-demokratischen Form. Als Exportartikel, wie großspurig ausposaunt, taugt es demnach doch wohl nicht mehr so richtig, oder? Dass damit die Teilung Deutschlands eingeleitet wurde und die zwei kommunistischen Mitglieder aus diesem Grund dagegen stimmten, wird in den Schulbüchern der BRD bis heute kaum erwähnt. Der damalige Kommentar vom Mitglied Max Reimann (KPD): »Die Gesetzgeber werden im Verlauf ihrer volksfeindlichen Politik ihr eigenes Grundgesetz brechen. Wir Kommunisten aber werden die im Grundgesetz verankerten wenigen demokratischen Rechte gegen die Verfasser des Grundgesetzes verteidigen«. Damit wären wir dann in der Gegenwart angekommen.
  • Leserbrief von Manfred Pohlmann aus Hamburg (19. Mai 2024 um 15:40 Uhr)
    Ja, ja, der gute alte Artikel 139 GG. Nicht umsonst hat W. Abendroth diesen Artikel besonders hervorgehoben, um aufzuzeigen, dass genau dieser Artikel und dessen Anwendung oder Verwässerung Auskunft gibt über den wahren Charakter dieser Republik. »Artikel 139 ist wesentlicher Bestandteil des Grundgesetzes. Deshalb ist jeder, der sagt, Faschisten und Kommunisten seien unter dem Gesichtspunkt des Extremismus (wie es u. a. das Bundesverwaltungsgericht u. der ›Verfassung‹sschutz praktizieren – M.P.) gleich zu bewerten, objektiv ein Gegner des GG. Artikel 139 verbietet es, solche Kräfte, die gegen den Faschismus gekämpft haben u. immer wieder kämpfen werden, gleichzusetzen mit jeden faschistischen Kräften, die durch das GG verboten sind.« (W. Abendroth) Nebenbei war das Rechtsverständnis der damaligen Alliierten, das diesem Artikel ja immer noch zugrunde liegt, auch gegen den Militarismus und jeglicher damit verbundener Kriegstreiberei des neu zu schaffenden Staates gerichtet! Bei aller Wichtigkeit, die Freiheitsrechte wie Versammlungs-, Presse- u. Meinungsfreiheit zu schützen, die aktuell massiv von jedem Polizeibüttel eingeschränkt werden können, sollten wir viel stärker als bisher den 139iger in unsere Aufklärungsarbeit einbeziehen. Verbunden mit dem Artikel 20/4 könnten wir tatsächlich kreative Formen des Widerstands begründen u. praktizieren. Laut N. Faeser (19.05.24) sind »linksextremistische« Straftaten besonders durch Klimaproteste gegen fossile Brennstoffe (Lützerath) und Trinkwassergefährdung (Tesla) gestiegen. Das könnte auch den Schluss u. die Vermutung nahelegen, dass die herrschende Politik demnach als »rechtsextrem« zu bezeichnen wäre? Wir können noch weitergehen: haben wir es bei dieser unserer Republik nicht doch eher mit einer postfaschistischen zu tun, die alles daran setzt, den antifaschistischen und antimilitaristischen Ballast loszuwerden? Nicht umsonst scheuen sich die Gesetzgeber davor, den Artikel 139 in Gänze auszubuchstabieren bzw. anwendungsbezogen zu konkretisieren!

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