3000 Abos für die Pressefreiheit!
Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. Juli 2024, Nr. 173
Die junge Welt wird von 2869 GenossInnen herausgegeben
3000 Abos für die Pressefreiheit! 3000 Abos für die Pressefreiheit!
3000 Abos für die Pressefreiheit!
Aus: Ausgabe vom 16.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Arbeiterrechte

Der Getir-Rückzug und die Debatte zum Streikrecht in der BRD

Von David Maiwald
imago0137519219h.jpg

Der Rückzug von Getir, mit dem auch seine Tochter Gorillas vom deutschen Markt verschwindet, hat nicht nur Folgen für die Lieferbranche. Denn während die 1.310 Beschäftigten um Restgehälter und Abfindungen bangen, betrifft der Abgang auch Lohnabhängige außerhalb von Branche und Konzern, wenn nicht sogar die gesamte Arbeiterklasse.

Denn drei Lieferfahrer, Rider der späteren Getir-Tochter Gorillas, entfachten in den letzten drei Jahren die Debatte über das restriktive Streikrecht der BRD: Vor Berliner Arbeitsgerichten wehrten sie sich gegen Kündigungen wegen des Aufrufs oder der Teilnahme an verbandsfreien, »wilden« Streiks im Herbst 2021 und attackierten dabei offen das der Streikrechtsprechung zugrunde liegende Gutachten des Nazijuristen Hans Carl Nipperdey. Dieses gestattet Streiks nur, richten diese sich auf den Abschluss von Tarifverträgen. Weder »wilde« noch politische Streiks sind dadurch legal, ein »Dogma, unvereinbar mit dem Grundgesetz und internationalen Verträgen«, wie der Arbeitsrechtler und Rechtsanwalt der Rider, Benedikt Hopmann, erklärte.

In zwei Verhandlungen hatten das Berliner Arbeits- und Landesarbeitsgericht die Kündigungen bestätigt, letzteres keine Revision vor dem Bundesarbeitsgericht zugelassen. Nach erfolgloser Beschwerde bei der Bundeskammer liege der Rechtsstreit nun als Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, so Hopmann. Sollte diese aufgrund des Rückzugs von Getir fallengelassen werden, könnte dies den juristischen Anlauf zur Anfechtung des repressiven Streikverständnisses in der BRD vorerst stoppen. Karlsruhe sollte die Beschwerde wegen ihrer »grundsätzlichen Bedeutung« aber zulassen, bekräftigte Hopmann gegenüber jW.

Das Verfassungsgericht berücksichtige in Urteilen und Beschlüssen »generell sämtliche entscheidungsrelevanten Umstände des jeweiligen Falles«, antwortete die Kammer, nach der Bedeutung der Beschwerde gefragt. Diese befinde sich »in Bearbeitung«. Die Kündigungsschutzklagen gegen Gorillas seien der bislang »beste Versuch, das Streikrecht juristisch anzufechten«, sagte die Wortführerin der gekündigten Rider, Duygu Kaya, zu jW. Das trifft, wie eine Urteilsbegründung von März 2022, im Prozess um die Kündigung eines anderen Gorillas-Riders, zeigt. Diese bemerkte, dass die »propagierte Notwendigkeit, dass ein Streik gewerkschaftlich organisiert sein muss, keine gesetzliche Grundlage hat«. Der Widerhall der Debatte in Gesellschaft und Gewerkschaften falle dennoch nicht bedeutend ins Gewicht, kritisierte Kaya. Die DGB-Gewerkschaften begrenzten sich in ihrer Arbeit »ausschließlich auf den institutionalisierten Rechtsrahmen«.

Werde das Streikrecht gesetzlich weiter eingeschränkt, »antworten unsere Gewerkschaften dann mit einer Presseerklärung?« fragte Hopmann spitz. Es sei »entscheidend«, sich »nicht vom geltenden Recht abhängig zu machen«. Die IG Metall habe 1996 zum Protest gegen die gesetzlich geplante Absenkung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall während der Arbeitszeit aufgerufen. »Das war ein politischer Streik: Sie hat darauf bestanden, dass die Demokratie nicht vor den Betriebstoren endet«, so Hopmann. Mehrere Tage andauernde, verbandsfreie Streiks in Werken von Mercedes in Bremen und Untertürkheim hätten zu Verhandlungen und dem Abschluss eines Tarifvertrags mit 100 Prozent Entgeltfortzahlung mit dem Kapitalverband Gesamtmetall geführt, die Absenkung sei 1999 per Gesetz rückgängig gemacht worden.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren. Denn nicht allen lernen die junge Welt kennen, da durch die Beobachtung die Werbung eingeschränkt wird.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Riders on the Storm. Als die Beschäftigten des Lieferdienstes Go...
    01.06.2023

    Recht auf Ausstand

    Ohne einheitliche Haltung. Hiesige Gewerkschaften nehmen unterschiedliche Positionen zu den jüngsten »wilden Streiks« in der Bundesrepublik ein
  • Streikzentrum: Arbeitsausstände bei den Kölner Ford-Werken 1973
    02.08.2021

    Rechtsbruch mit Macht

    Berlin: Veranstaltung über Legitimität »wilder Streiks«. Anwalt Hopmann verweist auf Sozialcharta
  • Die Schülerinnen und Schüler machen es vor – »Fridays for Future...
    05.07.2019

    Mehr Recht durch Rechtsbruch

    Für den 20. September ruft die Klimabewegung zum internationalen Streik auf – in den Schulen und in den Betrieben. Eine Chance, in Deutschland endlich das Recht auf politischen Streik durchzusetzen

Regio:

Mehr aus: Schwerpunkt