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Aus: Ausgabe vom 11.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Schrecklich langsam tanzen

Berliner Theatertreffen: In der französischen Produktion »Extra Life« am Potsdamer Hans-Otto-Theater geht es um sexualisierte Gewalt und Schuld
Von Michael Wolf
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Licht, Sound und Körper (Theaterszene)

Das Berliner Theatertreffen vom 2. bis 20. Mai ist in diesem Jahr auch das Potsdamer Theatertreffen. Zumindest an den zwei Abenden, am 7. und 8. Mai, an denen die Produktion »Extra Life« am Hans-Otto-Theater gastierte. Hoher Besuch an der Havel, zumal dem Ensemble neben Theo Livesey und Katia Petrowick auch der französische Superstar Adèle Haenel angehört. Die 35jährige Schauspielerin wurde bereits zweimal mit dem Filmpreis César ausgezeichnet. Im letzten Jahr gab sie bekannt, der misogynen Filmbranche den Rücken zu kehren und sich statt dessen auf das Theater zu konzentrieren.

In den Arbeiten von Gisèle Vienne gehört sie schon lange zum Stammpersonal. Die französisch-österreichische Künstlerin und Choreographin ist zum ersten Mal beim Theatertreffen dabei. Und man darf nicht nur ihr, sondern auch der Jury zu ihrer Einladung gratulieren. Denn so ein beeindruckendes Zusammenspiel von Licht, Sound und Körpern gibt es nur selten auf einer Bühne zu bestaunen.

Am Anfang sind da nur die Scheinwerfer eines Autos zu sehen, um den Wagen herum wabert der Nebel. Auf den Vordersitzen unterhalten sich ein Mann und eine Frau auf französisch. Sie kommen von einer Party, sind angetrunken, haben wohl auch Drogen genommen. Ihre Gespräche kreisen um gemeinsame Erinnerungen, um ihre Beziehung zueinander, um das Radioprogramm, in dem ein Feature über Außerirdische läuft.

Nur allmählich erfährt man mehr über die zwei. Clara und Felix heißen die beiden, sie sind Geschwister und teilen ein Trauma. Ihr Großvater hat sie über Jahre missbraucht. Dieses Unheil schweißt sie zusammen und zerreißt sie – jeden für sich. Felix steigt nach einer Weile aus dem Wagen aus, beatlastiger R & B schwappt über die Bühne, der Nebel schwillt an und er bewegt sich in Zeitlupe, beginnt schrecklich langsam zu tanzen. Und wenn er dann so in Zeitlupe die Arme hebt und in die Knie geht, dann weiß man nicht, ob er Freude empfindet oder sich vor Schmerzen krümmt, ob er noch tanzt oder schon fällt.

»Extra Life« erzählt keine Geschichte, es wird nicht viel gesprochen und das Publikum bekommt nur wenige Informationen an die Hand. Und dennoch geht es diesem Abend genau darum: um Vermittlung. Gisèle Vienne will nicht erklären, wohl aber zeigen, wie das ist, wenn eine Erinnerung einen plötzlich aus der Welt herausreißt und zurückzieht in den Horror, den man einmal erlitten hat und immer wieder erleiden muss.

Der Abend lässt sich als eine Annäherung an psychische Extremsituationen verstehen. Die Choreographien in Zeitlupe ergeben Sinn als Schilderungen von Depersonalisation, also davon, sich abgetrennt von seinem Körper und seinen Gedanken zu erleben. Immer wieder klinken die Geschwister sich aus der Wirklichkeit aus, werden von Beats hin- und hergeworfen, prallen an Laserstrahlen ab, irren umher wie Schatten, die ihre Körper suchen. Es dauert Minuten bis Viertelstunden, bis wieder Klarheit in die Augen der Performer kommt, bis der irre Gespenstertechno von Komponistin Caterina Barbieri und das Lichtdesign von Yves Godin sie freigeben, bis Clara fragt, wie lange sie geweint habe.

Nach einer Weile gesellt sich dann tatsächlich eine dritte Person zu ihnen, es ist eine Abspaltung von Clara. Sie tanzt in einer Szene sexy, öffnet ihre Beine, lässt die Hände über ihren Körper fahren. »Hör auf! Das habe ich nie gemacht!«, brüllt und fleht die eine Clara die andere an. Dass das eigene Leben verpfuscht ist von Kindestagen an, haben die Geschwister längst akzeptiert. Nun geht es nur noch darum, nicht auch noch schuld daran zu sein.

www.berlinerfestspiele.de

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