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Aus: Ausgabe vom 11.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
»Semiten«

Gruppe eng verwandter Sprachen: Bemerkungen zum Begriff des Antisemitismus

Von Knut Mellenthin
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Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel nach der christlichen Rückeroberung (»Reconquista«) im 12. und 13. Jahrhundert

Zum Thema Antisemitismus kann man, vor allem in Quellen, die der palästinensischen Seite im weitesten Sinn nahestehen, eine eigenartige Argumentation lesen, die meist in belehrendem Ton auftritt, aber eindeutig falsch ist. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas blamierte sich damit mehrmals öffentlich. Knapp zusammengefasst geht es um die Behauptung, dass die Aschkenasim, der geschichtlich betrachtet aus Europa stammende Teil der Juden, in Wirklichkeit gar keine »Semiten« seien, also auch vom Antisemitismus nicht betroffen sein könnten. Der Begriff »Semiten« habe ursprünglich alle Araber, »egal ob jüdisch, christlich oder muslimisch«, bezeichnet. Also seien nur die Sephardim, die aus arabischen Ländern stammenden Juden, »Semiten«.

Falsch. Der Begriff »semitisch« bezeichnet eine Gruppe von eng verwandten Sprachen, zu denen Hebräisch ebenso gehört wie Arabisch in seinen verschiedenen nationalen und regionalen Formen. Dass es eine »semitische Rasse« gebe, lässt sich letzten Endes auf die jüdische Bibel zurückführen: Der mit der Sintflutsage verbundene Noah habe drei Söhne Sem, Ham und Japhet gehabt, aus deren Nachkommenschaft alle Völker der Welt entstanden seien, heißt es dort. Jedem der drei wurde eine ganze Reihe von namentlich genannten Völkern zugeordnet. Daraus ergäbe sich, dass die Völker Afrikas auf Ham zurückgehen, die Europäer auf Japhet und die Bewohner des Nahen und Mittleren Ostens auf Sem.

Die Selbstbezeichnung judenfeindlicher Organisationen als »Antisemiten« verbreitete sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und geht vermutlich auf den deutschen Journalisten Wilhelm Marr zurück, der 1879 eine Antisemitenliga gründete. Inhaltlich gingen die Antisemiten kaum über die schon vorher üblichen Zuschreibungen von angeblichen Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen an »die Juden« hinaus. Neu war die explizit vorgetragene Behauptung, es handele sich um eine »Rasse« mit gemeinsamen und im Laufe vieler Generationen kaum veränderbaren genetischen Grundlagen. Damit stand für Antisemiten fest, dass sie »die Juden« nicht als Individuen ansahen und behandeln wollten, die ihren Status durch die Aufgabe ihrer Religion, am besten durch Übertritt zum Christentum, verbessern konnten.

Offensichtlich ist, dass der Antisemitismus sich nie und nirgendwo gegen »die Araber« als »rassisch Verwandte der Juden« mit gleichen oder ähnlichen zugeschriebenen Verhaltensweisen und Eigenschaften richtete. Ebenso richteten sich die vor allem in der Zeit des Naziregimes zur Gewohnheit gemachten Begriffe »nichtarisch« und »Nichtarier« ausschließlich gegen Juden. Weder Japaner, Chinesen noch Araber oder Türken galten als »Nichtarier« im Sinn der »Rassengesetzgebung«. Das schloss aber nicht aus, dass sie als Individuen oder auch als Gruppe spezifischen rassistischen Diskriminierungen unterliegen konnten. Dabei gab es eine Hierarchie: Japaner konnten, zumal als besonders »tapfere« militärische Verbündete, mit Respekt rechnen. Am meisten kam die Einstufung und Behandlung der Roma und Sinti der Praxis des nazistischen Antisemitismus nahe.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (12. Mai 2024 um 18:56 Uhr)
    Als Semiten werden historische Völker bezeichnet, die eine semitische Sprache sprachen. Zu den heute gebräuchlichen semitischen Sprachen zählen Arabisch, Neuhebräisch, Neuaramäisch sowie die neusüdarabischen Sprachen. Auch die zahlreichen semitischen Sprachen Äthiopiens und Eritreas, darunter Amharisch, Tigrinya und Tigre, gehören dazu. Der Sammelbegriff »Semiten« als Bezeichnung einer Völkerfamilie gilt heute als ungenau und überholt. Erst in verschiedenen pseudowissenschaftlichen Rassentheorien der späten Neuzeit wurden die Juden als »Semiten« bezeichnet, was nicht korrekt ist! Hieraus entstand auch der Begriff Antisemitismus. Im 19. Jahrhundert wollten sich jedoch die Antisemiten auch selbst lieber als »Antihebraismus« verstanden wissen. Die Aschkenasim Juden (…) blieben und beharrten auf diesem schmeichelhaften Begriff, da er sie als Semiten anerkennt und bestimmt, was sie nicht sind. Die Begründung: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, als der Zionismus entstand und Neuhebräisch wiederbelebt wurde, sprachen die europäischen Juden gar nicht semitisch, sondern Jiddisch. Althebräisch war eine ausgestorbene Sprache, die in unserer Zeitrechnung nicht mehr gesprochen wurde, ähnlich wie Latein. Jiddisch ist tatsächlich eine germanische Sprache mit hebräischen Einflüssen, die von den Aschkenasim gesprochen wurde. Es enthält die meisten Wörter und grammatischen Strukturen aus dem Deutschen sowie einige Fremdwörter aus dem Hebräischen und Aramäischen. Des Weiteren stammen die Aschkenasim, die östlich des Rheins lebten, von den Chasaren ab, einem Volk, das das Judentum übernahm. Sie waren jedoch niemals Semiten und sprachen niemals Hebräisch. Siehe dazu: Arthur Koestler »The Thirteenth Tribe – The Khazar Empire and its Heritage«, sowie Swetlana Alexandrowna Pletnjowa »Die Chasaren«

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