»Halbjüdin« und Helgolandbesetzerin
Von Fabian LinderDen 8. Mai 1945 sah Marianne Wilke als den Tag, an dem »zumindest die unmittelbare Lebensgefahr aufhörte«. Für sie und ihre Familie war es eine Befreiung, während nicht wenige Zeitungen damals von Niederlage schrieben. Zur Uraufführung seines neuen Dokumentarfilms »Einmal und nie wieder« über die Kieler Antifaschistin war im schleswig-holsteinischen Wedel das Stadtteilzentrum »Mittendrin« am 25. April voller Gäste, wie Regisseur Johannes Hör gegenüber junge Welt berichtete. In der Stadt unweit von Hamburg hatte Wilke zuletzt ihren Lebensmittelpunkt.
Der Film beginnt mit ihrer Schulzeit als »Halbjüdin« in der Nazidiktatur, den Erfahrungen der Deportation der Großeltern nach Riga und weiterer Verwandter, die in den verschiedenen Konzentrationslagern ermordet wurden. Davon erzählte Marianne Wilke noch bis zuletzt in Schulen, wo Hör sie mit der Kamera begleitete. Bis zu ihrem Tod im Sommer 2023 sprach sie öffentlich über das, was sie erlebt und überlebt hatte. »Es war ihr ein Anliegen, mit ihren Leitz-Ordnern in die Schulen zu gehen und antifaschistische Bildung zu betreiben«, sagte Hör.
Wilkes Hoffnung auf eine gerechtere Welt nach Kriegsende war enttäuscht worden. Empört hatte sie und Gleichgesinnte, dass auch nach Kriegsende täglich Bomben auf Helgoland abgeworfen wurden. Die deutsche Nordseeinsel war nach dem Krieg durch die britische Luftwaffe als Übungsgebiet genutzt worden. Mit Hilfe von Fischern, die auf Helgoland als Rettungshafen angewiesen waren, setzten Wilke und einige Mitstreiter auf die Insel über, um diese demonstrativ zu besetzen und so ein Ende der Bombenabwürfe sowie eine Rückkehr der Helgoländer zu erwirken.
Eine Woche dauerte der Protest, der für die Beteiligten erst in einer Zelle und dann in einem Prozess endete. Dass unter den 15 Helgolandbesetzern auch drei FDJ-Mitglieder waren, habe in der Bundesrepublik zu Kritik geführt. »Antisemitismus und Antikommunismus waren noch nicht aufgearbeitet«, kritisierte dies Marianne Wilke. Das habe auch an der stockenden Entnazifizierung gelegen. Man habe mit der Friedensbewegung in der fortschreitenden Militarisierung womöglich verhindern können, dass Deutschland damals Atomwaffen beschaffte, resümiert die Aktivistin im Film. »Im Krieg gehe es schließlich nicht um Menschenrechte, sondern um Interessen etwa der Rüstungsfirmen«, zeigte sich Wilke sicher.
»Marianne ist politisiert worden durch die Nachkriegszeit. Die Erfahrung und Enttäuschung der Erwachsenen ihrer Generation in Schleswig-Holstein hatten sie geprägt«, erklärte Hör gegenüber jW. Den Ansporn Wilkes, für eine stringente Aufarbeitung zu kämpfen, sieht er darin, dass »politisch aus der Vergangenheit nicht viel gelernt wurde«. Das erkläre auch, warum Wilke in den 70er Jahren in die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN–BdA) eingetreten war, als sich diese für nachfolgende Generationen öffnete. Mit der VVN–BdA stritt Wilke etwa für die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Unter den Nazis hätten viele Kapitalisten von Zwangsarbeitern profitiert, entschädigen wollte diese aber hinterher niemand. Nur aufgrund starken öffentlichen Drucks haben einige schließlich doch gezahlt.
Ginge es nach der AfD, dürfte Wilke nicht in Schulen gehen und über ihre Erlebnisse sprechen, erklärt sie im Film. Eine Ursache für das Erstarken dieser Partei sieht Wilke in den Unsicherheiten der Bevölkerung, welche von der AfD gezielt instrumentalisiert würden. »Die Erfahrungen aus alten Zeiten sind sehr wertvoll. Gerade in bezug auf Faschismus, Kriegswirtschaft und Militarismus. Hier erleben wir einen Wendepunkt«, erläuterte Hör.
»Einmal und nie wieder«: 2. Uraufführung, 15. Mai, Metro Kino, Kiel
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