junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 18. / 19. Mai 2024, Nr. 115
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 08.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Liedkunst

Im Krieg verbrennen

Ein Pionier des sowjetischen Autorenliedes: Vor 100 Jahren wurde Bulat Okudschawa geboren
Von Alina Fuchs
10.jpg
Trauriger Humanist: Bulat Okudschawa

Hundert Jahre ist es her. Am 8. Mai 1924 wurde der sowjetische Liedermacher Bulat Okudschawa in Moskau geboren. Trotz widriger Umstände, trotz großer Verluste in seiner Jugend, traumatischer Kriegserfahrungen und der Skepsis sowjetischer Autoritäten machte er sich international einen klingenden Namen – als Pionier des Autorenliedes, Musiker und »Gedichtsänger«. Anlässlich seines Todes im Jahr 1997 nannte die New York Times ihn eine »der beliebtesten und mächtigsten Stimmen seiner Generation«. Eine slawistische Fachzeitschrift charakterisierte ihn in ihrem Nachruf als »einen der traurigst vorstellbaren Humanisten«.

Tatsächlich: Okudschawas nachdenkliche, melancholische Gedichte sorgten dafür, dass er weit über die Sowjetunion hinaus rezipiert wurde. Ob der Zeitlosigkeit seiner Werke ist er bis heute bekannt und relevant. In Zeiten von Aufrüstung und Militarisierung hat der entschiedene Kriegsgegner bittere Aktualität.

Okudschawa wuchs im Moskauer Stadtteil Arbat als Sohn eines Georgiers und einer Armenierin auf. Sein Vater war ein wichtiges Mitglied der KPdSU, wurde aber 1937 als angeblicher Trotzkist hingerichtet, die Mutter zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Der damals zwölfjährige Okudschawa machte die traumatischen Erfahrungen zum Thema manch seiner Werke. Im Text »Die Frau meiner Träume« (nach dem deutschen Revuefilm von 1944) beschreibt er das Wiedersehen mit seiner äußerlich kaum veränderten, innerlich gebrochenen Mutter.

1955 wurde sie rehabilitiert, Oku­dscha­wa selbst kehrte 1959 nach Moskau zurück. 1942, noch als Schüler, hatte er sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, was ihm eine Verwundung und ein neuerliches Trauma beibrachte. Seine Kriegserfahrungen, die Desillusionierung über angebliches Heldentum, gingen ein in sein Werk. Seine Karriere als »Gitarrenlyriker« mit Autorenliedern begann in den 1950er Jahren.

Im Grunde sind Autorenlieder vertonte Gedichte. Gegen Ende der 1950er Jahre begannen manche sowjetische Dichter, Stücke mit der Gitarre zu begleiten. Okudschawa ist der bekannteste von ihnen. Die Lieder wurden im Freundeskreis in Privatwohnungen vorgetragen, waren im Grunde nicht für große Bühnen gedacht. Ihre immense Verbreitung erfuhren die Stücke zunächst über den »Samisdat« bzw. »Magnitisdat«, inoffizielles, privat organisiertes Verlegen geschriebener oder akustischer Werke. Dergestalt unabhängig vom staatlichen sowjetischen Kulturbetrieb und dessen Vorschriften, konnten die Gedichtsänger Themen behandeln, die offizielle Narrative hinterfragten, peinliche Missstände aufgriffen, die für die staatliche Kulturproduktion zu heikel gewesen wären. Okudschawa thematisierte Gedanken und Gefühle von Einzelpersonen, von Individuen, nicht eben üblich im sowjetischen Realismus, der den Fokus auf die Masse forderte. Häufig geht es ihm um Krieg und Liebe, seltener haben seine Stücke explizite sowjetische Bezüge. Dadurch wurde er auch außerhalb des Landes beliebt.

Wenn er vom Krieg sang, war das große Heldennarrativ seine Sache nicht. Er besang die Desillusionierung, Fragen des Gewissens einzelner Soldaten, die große Sinnlosigkeit des Krieges an sich. Auch deshalb finden Titel wie »Wir brauchen einen Sieg« noch heute großen Anklang. In seinem Lied vom Papiersoldaten, der ins »Feuer« will, vergisst dieser, wie verwundbar, ja nutzlos er ist, eben aus Papier – er verbrennt für nichts. Kein vernünftiger Mensch würde freilich behaupten, dass die Rote Armee umsonst gegen das faschistische Deutschland gekämpft hat.

Man muss also die Kunst Oku­dschawas eher als losgelöst betrachten von realen Ereignissen. Sein Papiersoldat ist so allgemein, er könnte 1870, 1915, 1943 oder 2024 beinahe überall auf der Welt existieren, an einer beliebigen Front sein Leben lassen. Man kann es auch so sehen: In Tagen, in denen deutsche Zinnsoldaten gegossen werden sollen, könnten wir bald zu heimatlosen Papierfiguren werden. Bulat Okudschawa mag uns daran erinnern.

»Okudshawas Erbe. Literarisches und Musikalisches zum 100. Geburtstag von Bulat Okudshawa«. Mit Jeka­therina Lebedewa und Tino Eisbrenner. Fr. 14. Juni 2024, 19 Uhr (Einlass ab 18 Uhr), Maigalerie, Torstr. 6, 10119 Berlin, Eintritt: 10 Euro (erm. 5 Euro)

Voranmeldung: 0 30/53 63 55-54 oder maigalerie@jungewelt.de

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • Die Nazis setzten die Bewohner Leningrads mit der Blockade der S...
    27.01.2024

    Mord durch Aushungern

    Vor 80 Jahren endete nach fast 900 Tagen die deutsche Blockade Leningrads. Dem Genozid fielen mehr als eine Million Menschen zum Opfer. Eine Entschädigung steht bis heute aus

Regio:

Mehr aus: Feuilleton