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Aus: Ausgabe vom 03.05.2024, Seite 8 / Ansichten

Totgesagte des Tages: Evangelische Kirche

Von Felix Bartels
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Die Kirche stirbt, solang sie lebt. Solang sie stirbt, lebt sie noch. Mit Gründen aber. Die schönen Evangelien, die feierlichen Liturgien, die opulenten Kirchenbauten, und nicht zu vergessen: Sich christlich betragen gewährt einen Tiefsinn sonder Mühe. »Zum Christenthum gehört, das ganze Wesen, / Man hat es gern, wenn man’s auch nicht so glaubt«, heißt es in Tiecks »Kaiser Octavianus«. Genau dort aber liegt das Dilemma. Wer weiß, dass er glaubt, kann nicht mehr glauben, dass er weiß.

Aufklärung und Wissenschaften haben die Rolle der christlichen Religion verändert. Aus der Welt­erklärerin wurde ein Life Coach. Kein schlechter, doch wer zahlt bloß dafür gern Kirchensteuer? Entsprechend nimmt sich die Entwicklung der Mitgliederzahlen aus. 1950 waren 45,8 Prozent der Deutschen katholisch und 50,6 evangelisch. 1990 bloß noch 35,8 und 36,9. 2022 dann 24,8 und 22,7, während der Anteil der Konfessionslosen bei 41,4 lag. Nun hat die Evangelische Kirche bekanntgegeben, dass sie im Lauf des Jahres 2023 mehr als eine halbe Million Mitglieder verloren habe, teils an die Friedhöfe, teils an die Freiheit: 340.000 Mitglieder starben, 380.000 traten aus. Verrechnet man das mit den Eintritten, ergibt sich ein Rückgang um 593.000, 3,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Finden wir das gut? Je nun, es spricht doch einiges dafür, dass Menschen Religionen nicht ablegen, sie wechseln sie. Die Neuzeit mit all ihrer Wissenschaft und Aufklärung hat zugleich ein breites Feld von Glaubensangeboten eröffnet – im Politischen, in Fragen der Ernährung, in Gesundheit, Sport, sexueller Lebensführung, Fandom, Verschwörungszeug usw. Jede Neuheit schafft zwei neue Lager: Apokalyptiker und Evangelisten. Der Hang der Menschen zum Entweder-Oder findet mittlerweile so viele Spielwiesen, dass die Kirche nur noch eine unter vielen ist.

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  • Leserbrief von Erich Lerch aus Augsburg (3. Mai 2024 um 13:15 Uhr)
    Die evangelische Kirche hat ja viele positive Seiten. Gut, Käßmann musste zurücktreten, aber der Widerstand gegen den aufziehenden Militarismus war spürbar (Zitat Käßmann: »Nichts ist gut in Afghanistan«). Und es gibt ihn dort immer noch. Aber nachdem die Leitung Waffenlieferungen an die Ukraine zur christliche Pflicht erklärt hat, ist es für Kritiker dieser Politik schwer geworden, diesen Verein weiter mit Mitgliedschaft und Kirchensteuer zu unterstützen.

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