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Aus: Ausgabe vom 02.05.2024, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
1. Mai in Zypern

1. Mai in der Pufferzone

Gewerkschaften aus beiden Teilen Zyperns demonstrieren am Kampftag der Arbeiterklasse für Frieden und Wiedervereinigung der geteilten Insel
Von Richard Steisslinger
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Rund 2.500 Menschen nahmen an der gemeinsamen 1.-Mai-Demonstration am Mittwoch in Nikosia teil

In drei Silben erklingt das Adjektiv »gemeinsam« auf Demonstrationen zum 1. Mai. Es beschreibt einen der wichtigsten Wesenszüge des Kampftags der Arbeiterbewegung, die Solidarität mit und von Arbeiterinnen und Arbeitern. Doch auf Zypern hat »gemeinsam« für die linken Gewerkschaften traditionell eine weitere Bedeutung. Sie fordern die Wiedervereinigung ihrer Insel, verbunden mit der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben der griechischen und türkischen Zyprioten.

Das gemeinsame Ziel führte die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus beiden Landesteilen nach Nikosia in die UN-Pufferzone. Sie ist Resultat des militärischen Konflikts zwischen griechischen Kräften und der intervenierenden Türkei, der seit August 1974 eingefroren ist. Seit 50 Jahren liegt sie zwischen dem türkisch-zypriotischen Norden und dem griechisch-zypriotischen Süden. Auch die Hauptstadt ist geteilt. Die Ursprünge des Zypern-Problems reichen bis zur britischen Kolonialpolitik zurück.

Richtung Niemandsland

Auf ihrem Weg zur Kundgebung müssen die Teilnehmer durch die Checkpoints am Ledra Palace, einem ehemaligen Luxushotel, das heute Truppen der UN-Mission beherbergt und dessen teils löchrige Fassade hinter Stacheldraht liegt. Mobilisiert von der Panzyprischen Föderation der Arbeit, kurz PEO, marschieren die Demonstrierenden aus dem Süden in Richtung Niemandsland. Gesäumt wird ihr Weg von griechischen Flaggen, je näher man der Grenze kommt, um so mehr werden es. Unmittelbar nach dem Checkpoint sind zwei Plakatwände auf Augenhöhe zu passieren, die die Geschichten des 1996 von türkischen Rechtsextremen getöteten Tassos Isaak und des im gleichen Jahr von einem türkischen Soldaten getöteten Solomos Solomou erzählen.

Im Norden haben die Gewerkschaften DEV-IȘ, KTÖS, KTOEÖS, BES, KTAMS, KOOP-SEN und DAÜ-SEN dazu aufgerufen, zur gemeinsamen Kundgebung zu kommen. Ihnen begegnete auf ihrem Weg türkische Flaggen und die der Türkischen Republik Nordzypern mit rotem Mondstern auf weißem Grund. Anerkannt wird die 1983 gegründete Republik, kurz TRNC, nur von der Türkei. Auf dem Grenzhäuschen, in dem die Ausweisdokumente der Demonstrierenden kontrolliert werden, steckt dennoch ein großes Schild: »Turkish Republic of Northern Cyprus Forever« in Großbuchstaben, wobei das Wort »Forever« durch die Schriftgröße noch einmal besonders hervorgehoben wird. Diese nationalistischen Tendenzen müssen nicht nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kundgebung hinter sich lassen, wenn Zypern eine vereinigte Zukunft haben soll.

Es ist ein symbolischer Ort, den die progressiven Gewerkschaften beider Teile Zyperns für den Tag der Arbeit gewählt haben. Vor dem Ledra Palace gibt es einen kleinen Platz, auf dem seit diesem Jahr ein Monument steht: eine Weltkugel in den blauen Farben der UN und ein Schriftzug, der auf den mittlerweile 60jährigen Einsatz für Frieden hinweist. Schräg gegenüber befindet sich das Home for Cooperation, in dem mit meist kulturellen Veranstaltungen versucht wird, Brücken zwischen beiden Seiten zu schlagen. Direkt daneben ein verfallenes Haus mit Einschusslöchern in den Wänden und gestapelten Sandsäcken in den Fensterrahmen.

Gegen Mittag wird auf einer Bühne die gemeinsame Erklärung verkündet, in griechischer und türkischer Sprache. Es geht um die Historie des 1. Mai, die Forderung nach besserer Sozialpolitik, Frieden in der Welt und die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und mit den Palästinensern. Und natürlich bringt man auch die Forderung nach einer Lösung des Zypern-Problems zum Ausdruck. »Wir versuchen, all diese Problemfelder zu thematisieren«, erklärt Pieris Pieri von PEO, einem Zusammenschluss von Einzelgewerkschaften aus dem Süden. PEO ist neben der eher griechisch-nationalistischen SEK die zweite große Arbeitervereinigung im Landesteil und steht der ehemals kommunistischen Partei AKEL nahe. Generell sei die gemeinsame Feier eine große Errungenschaft, meint Pieri. Dem stimmt auch der Geographielehrer Erkan Bulak zu. Er ist Organisationssekretär in der KTOEÖS, einer der türkisch-zypriotischen Lehrergewerkschaften im Norden. »Der 1. Mai ist einer der wichtigsten Tage für uns. Wir sind sehr glücklich, dass wir mit der anderen Seite zusammenarbeiten.«

Keine Lösung in Sicht

Dieses Bündnis aus Gewerkschaften über die Grenze hinweg hatte bereits in der Vergangenheit bedeutenden Anteil daran, dass die Menschen für ein wiedervereinigtes Zypern auf die Straße gingen. Im Jahr 2017 hatte man große Hoffnungen auf die Gespräche in Crans-Montana in der Schweiz. Sie scheiterten aber, so wie auch schon 2004 der Annan-Plan. Beim Referendum über die Wiedervereinigung stimmten zwar 65 Prozent der türkischen Zyprioten dafür. Deutliche 75 Prozent der griechischen Zyprioten sprachen sich im Votum allerdings dagegen aus. Somit blieb die Insel geteilt, und de facto wurde nur der Süden Zyperns am 1. Mai 2004 in die Europäische Union aufgenommen.

Auch am Tag der Arbeit 20 Jahre später scheint die Lösung des Zypern-Problems wieder in weiter Ferne. Selma Eylem, Präsidentin von KTOEÖS, fasst die aktuelle Situation gut zusammen: »Ich will meine Hoffnung nicht verlieren. Wir sollten es versuchen, wir sollten kämpfen, und ich glaube und hoffe, dass wir noch einmal einen Anlauf finden, um unsere Stimme zu erheben.« Den Kampf versuchen sie gemeinsam zu führen, auch mit den Gewerkschaften aus dem Süden. Neben dem Tag der Arbeit gibt es weitere Termine, die Anlass für gemeinsame Aktivitäten geben. Z. B. der 1. September, der internationale Tag der Gewerkschaften für Frieden. Oder erst kürzlich im April, als Derviş Ali Kavazoğlu und Kostas Misiaoulis gedacht wurde. Beide waren 1965 von der türkischen paramilitärischen Gruppe TMT getötet worden und gelten bis heute als Kämpfer für ein geeintes Zypern, in dem beide Volksgruppen friedlich zusammenleben.

Zudem existieren weniger sichtbare Kooperationen der Gewerkschaften in Form von regelmäßigen Konferenzen und konkreten Abkommen. Ein solches haben etwa die Lehrergewerkschaften 2015 geschlossen. Drei Organisationen aus dem Norden und drei aus dem Süden erklärten, dass sich beim Europäischen Gewerkschaftskomitee für Bildung und Wissenschaft (ETUCE) griechische und türkische Zyprioten alle zwei Jahre als Landesvertretung abwechseln sollen und in Vorbereitung regelmäßige Treffen stattfinden. Doch seit der Pandemie habe die Produktivität abgenommen, beschreibt Süleyman Gelener von der türkisch-zypriotischen Lehrergewerkschaft KTÖS die Entwicklung. Das politische Klima trage auch dazu bei.

Die türkisch-zypriotische Bevölkerung steht unter Druck. Der Einfluss der Türkei ist nicht nur im Bildungssystem spürbar, sondern auch wirtschaftlich. »Die meisten Menschen im Norden versuchen zu überleben.« Das sei einer der Gründe, »weshalb sie sich nicht auf das Hauptproblem konzentrieren« könnten. »Aber unser Hauptproblem ist diese Konfliktsituation«, findet Selma Eylem. Was außerdem fehlt, sei eine wirkliche politische Perspektive, erklärt Pieris Pieri auf der anderen Seite. »Es ist unser Ziel, den Geist der Wiedervereinigung aufrechtzuerhalten und wenn die Zeit kommt, in großem Umfang zu mobilisieren.« Aber insgesamt sei die Zuversicht der Menschen nicht sehr groß, so Pieri. »Wegen des Stillstands im Verhandlungsprozess seit sieben Jahren.«

Politische Initiative nötig

Neue Bewegung in den Status quo des Zypern-Problems will offenbar UN-Generalsekretär António Guterres bringen. Zu Beginn des Jahres hat er die kolumbianische Diplomatin María Angela Holguín Cuéllar als seine persönliche Gesandte für Zypern benannt. Der Politikwissenschaftler Sertaç Sonan sieht eine politische Initiative als Voraussetzung, bevor überhaupt eine neue Aufbruchsstimmung in der Zivilgesellschaft entstehen kann. Dann seien auch die Gewerkschaften wieder in der Lage, große Teile der Bevölkerung zu mobilisieren.

Bis dahin dienen besondere Tage wie der 1. Mai dazu, den Wunsch nach einer Wiedervereinigung sichtbar auf die Straßen zu tragen. Für den Moment sind Selma Eylem von KTOEÖS und Pieris Pieri von PEO zufrieden. Pieri schätzt, dass insgesamt etwa 2.500 Menschen an der gemeinsamen 1. Mai-Demonstration in der Pufferzone teilgenommen haben. Doch schon bald steht wieder die alltägliche Gewerkschaftsarbeit auf dem Programm. Dann sitzt Selma Eylem in ihrem Büro im Norden, wo auch ein Newsletter von PEO auf dem Tisch liegt. Und Pieris Pieri hat aus seinem Arbeitssessel im Süden die Wanduhren der türkisch-zypriotischen Gewerkschaften im Blick, die er einst geschenkt bekam.

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