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Aus: Ausgabe vom 02.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukrainischer Bürgerkrieg

Blutige Provokation

48 Tote und mehr als 200 Verletzte: Am 2. Mai 2014 eskalierten in Odessa Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des »Euromaidan«
Von Reinhard Lauterbach
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Brennendes Fanal: Nach Angriffen von Faschisten steht das Haus der Gewerkschaften in Odessa am 2. Mai 2014 in Flammen

Für den 2. Mai 2014 war in der ukrainischen Hafenstadt Odessa ein Fußballligaspiel von Metalist Charkiw gegen Tschernomorez Odessa angesagt. Das Event diente als Anlass dafür, dass die Kiewer Regierung einen Sonderzug voller Fußballfans der Gäste nach Odessa fahren ließ. Die Passagiere rekrutierten sich aus dem »Rechten Sektor« sowie dem Charkiwer Hooliganmilieu, das ein gewisser Andrij Bilezkij – später bekanntgeworden als Gründer und langjähriger Leiter des Faschistenregiments »Asow« – seit den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts von russischem auf ukrainischen Nationalismus umgepolt hatte. Den Fans war egal, in welchem Namen sie sich prügelten, Hauptsache, es gab Anlass zur Randale. Dass von Staatsseite etwas geplant war, geht auch aus der Tatsache hervor, dass mehrere hundert Polizisten aus der »zuverlässigen« Stadt Lwiw im Westen der Ukraine zur Verstärkung der örtlichen Polizei nach Odessa kommandiert worden waren. Denn die Schwarzmeerstadt galt als politisch unzuverlässig, und die Kiewer Regierung verdächtigte die örtlichen Behörden prorussischer Sympathien.

Zunächst zogen die Fans nicht zum Stadion, sondern im Rahmen eines »Marschs der Einheit« unter blau-gelben Fahnen durch die Innenstadt von Odessa. Etwa 300 Anhänger des örtlichen »Antimaidan« versuchten dort am frühen Nachmittag, sich dieser Machtdemonstration entgegenzustellen. Am Vorabend war die Parole ausgegeben worden, sich auf militante Auseinandersetzungen einzustellen und entsprechende Ausrüstungsgegenstände mitzunehmen. Im Zuge der Zusammenstöße im Stadtzentrum fielen auch Schüsse, durch die sechs Menschen auf beiden Seiten getötet wurden. Es gibt Hinweise darauf, dass antifaschistische Aktivisten das Feuer eröffnet, aber ebenso darauf, dass halbstaatliche Organe Waffen an die Maidan-Anhänger ausgegeben haben. Auch ohne die späteren Ereignisse wären die Vorgänge in Odessa jedenfalls als eine der blutigsten Episoden des beginnenden ukrainischen Bürgerkriegs in die Geschichte eingegangen.

Importiert war die Gewalt in Odessa nur teilweise. Es gibt verstörende Videos davon, wie junge Frauen mit blau-gelben Fahnen um die Schultern Benzin aus Kanistern in Bierflaschen umfüllten, um daraus Brandsätze zu machen. Die Auseinandersetzungen hatten dazu geführt, dass die Maidan-Gegner ihr Protestcamp vor dem Gewerkschaftshaus praktisch ungeschützt zurückgelassen hatten. Nur ein paar alte Leute waren in den Zelten geblieben. Bis zum späten Nachmittag war klar, dass der Versuch der Antimaidan-Aktivisten, den »proukrainischen« Marsch gewaltsam zu verhindern, gescheitert war, auch wegen der zahlenmäßigen Unterlegenheit der Antifaschisten: 300 gegen mehrere tausend.

Am frühen Abend stürmten Maidan-Anhänger den Platz vor dem Gewerkschaftshaus und warfen Brandsätze in die dort stehenden Zelte der Antifaschisten. Diese flüchteten ins Innere des Gewerkschaftshauses, aber es gelang ihnen nicht, sich dort zu verschanzen. Polizisten und Nationalisten waren durch einen Nebeneingang ins Gebäude gelangt und legten im Treppenhaus Feuer. Die Flammen breiteten sich rasch aus und zwangen diejenigen Maidan-Gegner, die nicht verbrannt oder an Rauchvergiftung gestorben waren, aus den Fenstern der oberen Stockwerke zu springen. Wenn sie verletzt am Boden lagen, wurden sie von Nationalisten mit Eisenstangen erschlagen.

Die örtliche Feuerwehr beeilte sich nicht einzugreifen, obwohl die Hauptfeuerwache der Stadt nur wenige hundert Meter vom Gewerkschaftshaus entfernt war. Die Polizei bildete eine Gasse, durch die ins brennende Haus geflüchtete Antifaschisten Spießruten laufen mussten, wenn sie ins Freie kommen wollten. Die Bilanz des Feuers im Gewerkschaftshaus: weitere 42 Tote und 250 Verletzte. Im nachhinein übten Aktivisten der antifaschistischen Seite Selbstkritik: Man hätte sich nicht auf die Provokation der Maidan-Anhänger einlassen sollen. Eine gerichtliche Aufarbeitung der Vorgänge verlief im Sande. Insbesondere kam es damit auch nie zu Urteilen gegen »prorussische« Aktivisten. Das Thema war der ukrainischen Justiz offenbar zu »heiß«.

Die Erinnerung an die Vorfälle des 2. Mai 2014 ist in Odessa nach wie vor lebendig. Regelmäßig zum Jahrestag wird der Platz vor dem Gewerkschaftshaus für Besucher gesperrt, damit niemand dort etwa Blumen ablegen kann. Noch 2021 gab es eine lokale Debatte, weil ein Stadtrat vorgeschlagen hatte, auf dem Platz eine Gedenkwand für die Opfer des Pogroms aufzustellen. Die Partei von Expräsident Petro Poroschenko erregte sich aus diesem Anlass über den »Versuch, antiukrainische Separatisten zu ehren« und warnte davor, dass sich Odessa von der Ukraine abspalten könnte. Angeblich ist in der Hafenstadt ein »prorussischer Untergrund« tätig, der sich Sabotageakte gegen Einrichtungen der militärischen Infrastruktur zuschreibt. Die letzte Mitteilung von dieser Seite stammt vom Mittwoch morgen: Russland habe mehrere Raketen auf das am selben Platz gelegene Stabsgebäude der ukrainischen Heeresgruppe Süd abgefeuert. Man kann das als makabren Salut interpretieren.

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