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Aus: Ausgabe vom 30.04.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Grundlagen

Jenseits der Induktionsesel

Das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaften ist wieder im Wandel
Von Marc Püschel
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Naturwissenschaften: Von innen sieht man alles, aber nicht das Ganze

An Meinungsschwäche litt er nicht. Insbesondere über die Philosophie hat sich der ­große Physiker Stephen Hawking immer wieder klar geäußert: Sie habe mit der ­Naturwissenschaft nicht mehr mithalten können und sei deswegen »tot«. Dieser Abgesang auf die Philosophie könnte zum Bumerang werden. »Die Philosophie rächt sich posthum an der Naturwissenschaft dafür, dass diese sie verlassen hat«, prophezeite bereits Friedrich Engels in seinen Fragmenten zur »­Dialektik der Natur«. Wie auch immer man dazu stehen mag, die Reden von Tod und Rache deuten auf ein schwieriges Verhältnis hin.

Späte Trennung

Dabei erfolgte ihre Scheidung erst spät. In der Antike waren Philosophie und Naturforschung noch untrennbar mit­einander verbunden. Erst in der Neuzeit tritt eine Spaltung ein, die sich vor allem mit René Descartes in Verbindung bringen lässt. In der Reflexion auf das eigene Bewusstsein, das als Res cogitans strikt von den materiellen Gegenständen, der Res extensa, abgegrenzt wird, erschließt sich der Philosophie potentiell einen Gegenstandsbereich, der ein natur­wissenschaftliches Forschen ausschließt. Im Gegenzug eröffnet diese Trennung auch die Möglichkeit eines unbefangenen empirischen Erforschens der Natur, das zwar noch lange mit dem christlichen Weltbild in Einklang zu bringen war, aber nicht mehr unmittelbar aus diesem abgeleitet werden musste.

Als eigenes Gebiet wurden die Naturwissenschaften jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert betrachtet. Der britische Wissenschaftsphilosoph William Whewell (1794–1866) nutzte als erster den Begriff »Scientist«, grenzte diese von Naturphilosophen ab und fasste Physik, Chemie und Naturhistorie als »Inductive sciences« zusammen. Zwar herrschte lange Zeit bei Philosophen wie Naturwissenschaftlern aufgrund ähnlicher Rationalitätsstandards hohe gegenseitige Wertschätzung. Doch bestanden letztere immer stärker nicht nur auf ihre Eigenständigkeit, sondern auf ihren Vorrang. Gegenüber der rein begrifflich-geistigen Vorgehensweise der Philosophie (die daher als spekulativ bezeichnet wird) sei die Naturforschung, die durch Experiment und Beobachtung zu eindeutigen Beweisen oder Widerlegungen führt, prinzipiell überlegen.

Innerer Wandel

Dieses Bewusstsein von einer Vorrangstellung, die auch durch die technischen Fortschritte bestätigt zu werden schien, wurde zunächst auch nicht dadurch ins Wanken gebracht, dass sich das Verhältnis von Empirie und Methode stark zu verändern begann. In der Frühen Neuzeit war die Physik die Hauptwissenschaft der empirischen Forschung, Fallgesetze etwa oder die Planetenbahnen ließen sich noch recht unmittelbar aus experimentellen Messungen bzw. regel­mäßigen Beobachtungen ableiten. Schon im 19. Jahrhundert wird die Biologie zur empirischen Disziplin par ­excellence, die Forschungsreise Charles Darwins auf der »HMS Beagle« zum Vorbild. Dagegen wird die Physik immer theoretischer – bis hin zu einer völligen Umwälzung der Methode. In seinem Büchlein »Maschinenwinter« beschreibt Dietmar Dath diesen Wandel wie folgt: »Der Physiker Paul Dirac zum Beispiel konnte seine bedeutendste Pioniertat, den ersten Schritt zur Abstimmung von Quanten- und Relativitätstheorie aufeinander, nur vollbringen, weil er an den Gleichungen, mit denen man 1928 das Verhalten bestimmter Beobachtungsgrößen beschrieb, so lang herumdrehte, bis Vorhersagen dabei heraussprangen, die sich bald darauf auch experimentell bestätigen ließen. Das war neu; das hatte es nie gegeben.«

Die Physik erforscht zunehmend nicht mehr direkt die empirische Welt, sondern prüft ihre eigenen Ergebnisse, ­Modelle und Theorien auf unbekannte Folgerungen. Diese werden dann anhand der Empirie nur noch überprüft. Karl Poppers Gedanke, dass wissenschaftliche Vermutungen niemals verifiziert, sondern nur falsifiziert werden können, ist eine wissenschaftstheoretische Reflexion dieser Entwicklung. Unzweifelhaft hat diese methodische Umwälzung die Physik schlauer gemacht. Über Isaac Newton konnte Friedrich Engels noch sagen, er trete gegenüber dem mathematischen Genie Leibniz als »Induktionsesel« auf. Darüber ist die moderne Naturwissenschaft längst hinaus.

In der Krise

Ihr eigener Fortschritt bringt die Naturwissenschaft, insbesondere die Physik, jedoch zugleich in eine Krise. Neue, immer größere Phänomene, die sich gar nicht mehr direkt beobachten lassen, kommen in den Blick der Forschung. Schwarze Löcher oder dunkle Materie können zwar noch indirekt beobachtet oder aus ihren Wirkungen erschlossen werden. Doch sind die einzelnen Kräfte, die auf materielle Dinge wirken, im wesentlichen erschlossen. Zunehmend muss die Forschung sich daher den Relationen zwischen den Naturkräften selbst zuwenden: Die Suche nach einer vereinheitlichten Feldtheorie, die die vier fundamentalen Formen von Wechselwirkung (starke und schwache Kernkraft, Gravitation und Elektromagnetismus) vereint, ist Zeuge davon.

Dieser erneute Wechsel hat in den vergangenen Jahren zu einer sich verschärfenden Krisendiskussion geführt. Aus den Reihen von Vertretern der Stringtheorien und Wissenschaftstheoretikern wie Richard Dawid wird immer öfter behauptet, die Physik trete in eine »postempirische Ära« ein. Das Kriterium für die Richtigkeit einer wissenschaftlichen Theorie liege nicht mehr in der empirischen Überprüfbarkeit, sondern in ihrer Fähigkeit, verschiedene Naturgesetze in einer möglichst einfachen Erklärung zusammenzuführen. Doch was unterscheidet die Astrophysik dann noch von der spekulativen Methode der Philosophie? Es nimmt nicht Wunder, dass dagegen vehement Einspruch erhoben wird. Am berühmtesten ­dürfte der Aufsatz »Wissenschaftliche Methode: Verteidigung der Integrität der Physik« von George ­Ellis und Joe Silk in der Zeitschrift ­Nature von 2014 sein. Der Versuch, spekulative Theorien über das Universum zu entwerfen, unterminiere die Eigenständigkeit der Naturwissenschaft, argumentierten die Autoren. Empirische Nachweisbarkeit müsse das Fundament bleiben.

Nun liegt in der Tat in einem wie auch immer vermittelten Bezug zur materiellen Welt das entscheidende ­Charakteristikum der Naturwissenschaft. Das Bestehen darauf löst jedoch nicht ihr Problem. Richard Feyn­man hat in seinen berühmten Vorlesungen »Vom Wesen physikalischer Gesetze« bereits 1964 gewagt zu behaupten, es sei »wahrscheinlich, dass wir in Zukunft entweder den Punkt erreichen, wo alle Gesetze bekannt sind – das heißt genügend, damit die berechneten Folgerungen durch die Bank mit dem Experiment übereinstimmen, was das Ende dieser Linie bedeutete – oder die Experimente immer schwieriger und kostspieliger werden, so dass 99,9 Prozent der Erscheinungen erklärt wären«.

Dieses mögliche Ende, das wohl auch der biologischen und chemischen Forschung irgendwann bevorsteht, wäre aber in erster Linie das Ende des herkömmlichen Verhältnisses zur ­Empirie. Denn was immer noch bliebe, wäre einerseits spekulative Modellbildung, in der versucht wird, Gesetzmäßigkeiten untereinander in einen schlüssigen Einklang zu bringen. Andererseits Experimente, die Erkenntnisgewinn nur noch abwerfen, wenn sie in einem solchen (vielleicht sogar planetaren) Ausmaß stattfinden, dass sie die Frage aufwerfen, ob es noch Experimente sind oder nicht eher eine Neuschöpfung der Menschen, die es ethisch zu beurteilen gilt.

Die Naturwissenschaft wird also die Philosophie nicht los. Nicht nur, weil der Satz »Alles ist naturwissenschaftlich erforschbar« einen Geltungsanspruch erhebt, der selbst nicht mehr naturwissenschaftlich erforschbar ist, sondern auch, weil sie aufgrund ihres eigenen Fortschritts zunehmend mit metaphysischen und ethischen Fragestellungen und Methoden konfrontiert ist. Und auch Hawking würde dies vielleicht gar nicht überraschen. Denn er kritisierte die Philosophie nicht prinzipiell, sondern nur ihre Weigerung, über naturwissenschaftliche Fragen nachzudenken. So rief er, angesichts dieser Selbstbeschränkung, die er an Wittgensteins Sprachkritik festmacht, in seinem Buch »Eine kurze Geschichte der Zeit« aus: »Was für ein Niedergang für die große philosophische Tradition von Aristoteles bis Kant!« Aber an diese Tradition kann man ja wieder anknüpfen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (30. April 2024 um 19:49 Uhr)
    Ich spare mir, einen spekulativen Artikel über spekulative Philosophie zu kritisieren. Ein historisch-materialistisches Herangehen stelle ich mir jedenfalls anders vor. Knackig kann man das am Dath-Zitat festmachen. Ein Blick in die wikipedia zur Quantenelektrodynamik (https://de.wikipedia.org/wiki/Quantenelektrodynamik) hätte genügt, um die Unhaltbarkeit der Aussage zu sehen. In der Entwicklung der physikalischen Begriffe gibt es massenhaft Beispiele, wie Forschung und Darstellung auseinander gehen. Man kann (willkürlich) bei Kopernikus (heliozentrisches System) anfangen und sich anschauen, wie Kepler mittels der Beobachtungen von Tycho Brahe seine Gesetze formulierte. So »unmittelbar« war die Herleitung nicht. In diesem Zusammenhang könnte man auch Giordano Bruno erwähnen … Zeitsprung in das 19. Jahrhundert: Um die Aethertheorie zu beweisen, dachten sich die Herren Michelson und Morley ein Experiment aus, »Dabei wurden im Rahmen der Messgenauigkeit Nullresultate erzielt …« (https://de.wikipedia.org/wiki/Michelson-Morley-Experiment). Diese »Nullresultate« brachten die Physik der damaligen Zeit in heftige Bedrängnis. Aufgelöst wurde die Sache zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit der speziellen Relativitätstheorie. Seither weiß man, dass die Vakuumlichtgeschwindigkeit die höchste Geschwindigkeit ist, mit der eine Wirkung übertragen werden kann. Der Begriff »Wirkung« ist zentral für die ganze Physik. Marx: »Allerdings muss sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wieder, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu thun.« Tipp: Lesch, Baryonische und Dunkle Materie (https://www.youtube.com/watch?v=4aTVlKhKDuU)
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (30. April 2024 um 17:26 Uhr)
    Marc Püschels Artikel selbst beweist, wie dringend eine solide philosophische Basis gebraucht wird, um die Welt besser verstehen zu können. Wie wäre es mit einer philosophischen Position, die davon ausgeht, dass die objektive Realität unendlich ist und deshalb immer unendlich viele noch nicht gelöste Fragen für den Erkenntnisprozess bereithält? »Wir wissen schon alles!«, wie armselig ist diese Position gegenüber den Anforderungen an unsere Erkenntnis. Wissenschaften mögen ihre Instrumentarien verändern, aber ans Ende der notwendigen Erkenntnisse werden sie dennoch nicht gelangen. Schon deshalb, weil einer unendlichen Vielfalt der objektiven Realität immer nur endliche Kapazitäten erkennenden Denkens gegenüberstehen. Wird das nicht anschaulich dadurch belegt, wie winzig sich unsere wirklichen Kenntnisse über solche noch einfachen Probleme wie die Reaktionen des menschlichen Immunsystems, das Wetter oder die Ökologie der Erde gegenüber den wirklichen Erfordernissen ihrer Erkennbarkeit eigentlich ausnehmen? Von gesicherten Detailkenntnissen über die Entwicklung hin zu einer wirklich menschen- und naturgerechten Entwicklung unserer Gesellschaft gar nicht erst zu reden. »Das Ende der Wissenschaften«, wo wir doch eigentlich mit ihnen erst richtig anfangen (müssen)?

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