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Aus: Ausgabe vom 29.04.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Forschungen zur Arbeiterbewegung

Bis zum letzten Atemzug

»Inbegriff des Helden«: Harald Jentsch hat die längst überfällige Biographie des Kommunisten Robert Siewert geschrieben
Von Leo Schwarz
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Drei Buchenwald-Überlebende: Robert Siewert, Stefan Heymann und Walter Bartel (v. l. n. r.; Berlin, 30.12.1957)

Eine Nebenwirkung des Zusammenbruchs der kommunistischen Bewegung in Deutschland um 1989 war das Ende der – ohnehin erst in den Anfängen steckenden – kritisch-solidarischen Befassung mit der Geschichte dieser Bewegung. In den Jahrzehnten seither haben, unterbrochen von langen Phasen vollständigen Desinteresses, ganz überwiegend antikommunistische Autoren unterschiedlicher Schattierungen das Material, das sie interessiert hat, »verwertet«. Ein Genre, das hierbei noch bis in die jüngste Zeit nur noch selten anzutreffen war, ist die Biographie. Selbst zu den führenden Leuten fand nach 1990 kaum mehr eine biographische Forschung statt – eine Voraussetzung übrigens auch dafür, dass eine antikommunistische Bekenntnisschrift wie die Ulbricht-Biographie Ilko-Sascha Kowalczuks als »bahnbrechend« besprochen werden kann.

Nimmt man eine Arbeit wie die von Harald Jentsch über den 1887 in der Nähe von Posen geborenen Robert Siewert, Mitglied der KPD seit 1919, in die Hand, dann taucht beim Lesen immer wieder auch die Frage auf, wie es kommen konnte, dass so ungemein interessante Menschen wie Siewert heute nur noch wenigen Fachleuten und historisch-politisch Interessierten zumindest dem Namen nach bekannt sind. Im Fall Siewert war das Ende der DDR ganz konkret die Voraussetzung für diesen Zustand: Jentsch weist darauf hin, dass 1989 eine Siewert-Biographie druckfertig vorlag, deren Veröffentlichung »dann jedoch durch die ›Wende‹ 1989/90 verhindert wurde«.

In einem Brief eines österreichischen Buchenwald-Überlebenden aus dem Jahr 1966, den Jentsch im Bundesarchiv gefunden hat, heißt es über den von 1938 bis 1945 in Buchenwald inhaftierten Siewert: »Es gibt keine Worte, die ausdrücken könnten, was dieser edle Mann geleistet. Er müsste ein Monument erhalten.« Für Eugen Kogon war Siewert ein »Beispiel der Sauberkeit, Menschlichkeit und des persönlichen Mutes«, Fritz Selbmann nannte ihn 1964 den »Inbegriff des Helden«. Auf Siewerts Haftjahre in Buchenwald geht Jentsch in einem ausführlichen Kapitel ein. Der gelernte Maurer war dort seit 1939 Kommandoführer (Kapo) des Baukommandos I und damit einer der wichtigsten kommunistischen Funktionshäftlinge – also einer jener »roten Kapos«, deren Rolle nach 1990 im Zuge des umfassenden Angriffs auf das in der DDR entwickelte Bild des kommunistischen Widerstands zum Thema gemacht wurde.

Siewert hat, wie Jentsch zeigt, in oft entscheidendem Maße dazu beigetragen, Menschen das Leben zu retten. Er hat Häftlinge, die etwa im mörderischen Steinbruch des Lagers zugrunde gegangen wären, in sein Kommando geholt – darunter den Vater des vor einigen Wochen verstorbenen »Buchenwald-Kindes« Stefan Jerzy Zweig. Siewerts Baukommando bestand schließlich aus rund 1.000 Häftlingen. Zu Siewert ging man, wenn es galt, Neuankömmlinge »unterzubringen«, die an anderen Stellen des Lagers akut gefährdet waren. Als Kapo habe er versucht, »meinen Kameraden zu helfen«, betonte Siewert später. Und so hätten alle Kommunisten gehandelt, die Funktionen im Lager hatten. Auch Siewert musste freilich »exemplarische« Bestrafungen von Angehörigen seines Kommandos machtlos mit ansehen.

Siewert, der seit seinem Ausschluss aus der KPD im Februar 1929 Mitglied der KPD-Opposition (KPO) gewesen war, deren Inlandsleitung er nach der Errichtung der faschistischen Diktatur angehört hatte, war seit 1938 ein Akteur des illegalen Lagerwiderstands in Buchenwald. Obwohl Funktionär der einst als »KP-Null« geschmähten »rechten« Abspaltung, wurde er von den KPD-Mitgliedern »wie selbstverständlich als einer der ihren in dieses Aktiv einbezogen« und bald wieder in die KPD aufgenommen. In seiner Funktion leitete er auch Sabotageaktionen an: So wurde beim Bau des Erprobungsschießstandes der Gustloff-Werke waggonweise Zement »verschludert«, beim Bau einer Produktionshalle wurde dafür gesorgt, dass die Baugrube »völlig aus dem Winkel geriet«. 1944 hielt Siewert bei der legendären illegalen Trauerfeier für den im Lager ermordeten Ernst Thälmann die Gedenkrede. Das hat ihn beinahe das Leben gekostet; er verbrachte bis zum April 1945 mehrere Monate im »Bunker« neben dem Lagertor, dem gefährlichsten Ort des Lagers.

Ausgesprochen interessant ist das, was Jentsch an neuem Material über Siewerts Rolle als »Aktivist der demokratischen Umgestaltung im Osten« nach 1945 zutage gefördert hat. Bislang wurde Siewerts Ablösung als Innenminister von Sachsen-Anhalt 1950 in der Literatur oft als Degradierung eines ehemaligen KPO-Mitglieds angeführt – zumal Siewert 1951 eine »Selbstkritik« im Neuen Deutschland veröffentlichen musste. Für Jentsch, der sich die relevanten Dokumente angesehen hat, liegt der Fall aber mitnichten so eindeutig, denn der 62jährige »wurde keineswegs auf einen einflusslosen Nebenposten abgeschoben«. Und Siewert selbst empfand seine langjährige führende Rolle im Bauministerium offensichtlich nicht als Zurücksetzung. Er starb 1973, hochgeehrt und »aktiv bis zum letzten Atemzug«.

Dass Jentsch, der, wie er schreibt, 1974 als frischgebackener FDJler bei einem Besuch der Gedenkstätte Buchenwald erstmals auf den Namen Siewert aufmerksam wurde, diesen verdienstvollen Mann mit einer überwiegend aus den Primärquellen geschriebenen, handwerklich soliden biographischen Studie der Vergessenheit entrissen hat, verdient höchstes Lob.

Harald Jentsch: Robert Siewert. Eine Biographie. Verlag am Park, Berlin 2023, 396 Seiten, 25 Euro

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