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Aus: Ausgabe vom 29.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
50 Jahre Nelkenrevolution

Zwischen Freude und Frust

Portugal. Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der unvollendeten Nelkenrevolution und Protest gegen das Erstarken der extremen Rechten
Von Carmela Negrete, Lissabon
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»Demokratisieren, entkolonialisieren, entwickeln«: Gedenkdemonstration am Donnerstag in Lissabon

Graça Osorio, eine zierliche, lächelnde Rentnerin, die seit vier Jahrzehnten Mitglied der Kommunistischen Partei Portugals (PCP) ist, sucht nach einer starken Metapher, um die Revolution von 1974 zu kennzeichnen: »Wir lebten bis dahin in absoluter Dunkelheit«, sagt sie. Die Frau trägt einen Hut und eine Nelke und sagt, dass ihre politische Entwicklung in ihrer Jugend mit einem verbotenen Gedichtband von José Gomes Ferreira begonnen habe. Nach ihrem Besuch der PCP-Parteizentrale wird sie an der größten Gedenkparade teilnehmen, die es jemals in Lissabon zum Jahrestag des demokratischen Aufstands des Militärs gegeben hat. Für sie steht fest: Nur ihre Partei hat ein wirklich revolutionäres Programm, wobei sie aber mit allen anderen demokratischen Kräften zusammenarbeite.

Die Portugiesen sind zum 50. Jahrestag des friedlichen Umsturzes am Donnerstag in Massen auf die Straßen geströmt. Hunderttausende füllten die Avenida da Liberdade in der Hauptstadt mindestens fünf Stunden lang. Schon am Vortag war abends auf der Praça do Comércio gefeiert worden. Politische Lieder wurden gesungen und Videobotschaften eingeblendet, die den Eindruck vermittelten, der Umsturz von 1974 habe alles verändert, die Freiheit wurde erreicht. Nicht wenige Demonstranten in Lissabon machten jedoch darauf aufmerksam, dass die in der Verfassung verankerten Errungenschaften von Parteien wie der extrem rechten Chega in Frage gestellt werden, die bei den Wahlen im März ihre Ergebnisse verdoppeln konnte und seitdem 50 Abgeordnete stellt. Sie hetzen nun im Parlament gegen Migranten und Linke, fordern ultraliberale Wirtschaftsreformen und noch weniger Staat.

Auf der Avenida da Liberdade sind die Widersprüche des Kapitalismus mit Händen zu greifen. Neben Konsumtempeln und Luxushotels begegnet man dort Menschen ohne Obdach. Einer von ihnen, João, erzählt jW, dass er eine Rente von wenig mehr als 300 Euro habe und die Mietkosten genauso hoch seien. »Entweder wohnen oder essen«, sagt der Mann, der über nicht viel mehr als eine Decke verfügt und auf Medikamente gegen Diabetes und Bluthochdruck angewiesen ist. Manche Obdachlose zelten in weniger frequentierten Straßen der Stadt. Eine Revolution, die so ein Elend zulässt, kann nicht vollendet sein. »Die großen Misserfolge des April«, titelte am Mittwoch die Wochenzeitung Expresso und verwies auf die rund zwei Millionen Menschen, die laut Statistik »von Armut gefährdet« seien.

Dass die Revolution abgebrochen und nie vollendet wurde, wird zweifellos von einem Großteil der Bevölkerung geteilt. Entsprechend erklärte der Präsident des Verbandes »25. April«, Vasco Lourenço, am Donnerstag im Sender RTP, dass es noch viel zu tun gebe. Als Militär war er am Aufstand gegen die Regierung beteiligt, weil der Krieg ihm damals die Augen geöffnet habe. Damit meinte er den Kolonialkrieg, den Portugal in den 1970er Jahren in Afrika führte und in dem Tausende junge Leben verheizt wurden. Die Revolution brachte Frieden und das Ende der Kolonialkriege, aber Lourenço ist jetzt besorgt »über die fehlende soziale Gerechtigkeit, die Zunahme der Armut sowie die Unterschiede zwischen Reich und Arm«. Er betonte jedoch, dass das heutige Portugal besser sei als das vor der Revolution: »Portugal war ein Land mit einem ängstlichen Volk«, erklärt er, sehr arm und schlecht ausgebildet. Das habe sich grundlegend geändert, auch wenn die Rechte dies nicht wahrhaben wolle.

Im revolutionären Prozess wurden Dutzende Unternehmen verstaatlicht, auch wurde eine Agrarreform begonnen. Jedoch wurde ein Großteil des Erreichten bereits ein Jahr später unter dem Druck konservativer Kräfte und angesichts der damaligen internationalen Wirtschaftskrise wieder zurückgenommen. Doch der portugiesische Imperialismus wurde endgültig besiegt, und auch die Emanzipation der Frau ist nicht mehr umzukehren. Diese beiden Themen spielen auch in der historischen Aufarbeitung der Revolution innerhalb der PCP eine wichtige Rolle, die zum Jahrestag etwa eine Sammlung von Texten von Amílcar Cabral veröffentlichte, dem charismatischen Anführer des Befreiungskampfes in Guinea-Bissau, der 1973 von den Portugiesen ermordet wurde.

Die Feierlichkeiten zum 50jährigen Jubiläum laufen seit Monaten und werden bis 2025 andauern. Allein diesen April gibt es mehr als tausend Veranstaltungen, Vorträge und zahlreiche Aktivitäten. Am Freitag fand eine internationale Konferenz für Frieden und Freiheit unter dem Motto »Nie wieder Faschismus« statt, organisiert von der Union der Antifaschisten des portugiesischen Widerstands (URAP). Dort sprach auch der deutsche Historiker Ulrich Schneider als Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR). Er erzählte, dass zur Zeit der Nelkenrevolution viele Bekannte in den Alentejo gereist seien, um in den Kooperativen eine nichtkapitalistische Landwirtschaft zu erleben. »Portugal war für uns damals ein Symbol, dass der Faschismus durch den Kampf der Völker beendet werden kann«, so Schneider. Heute sei es wichtig, sich gegen die Umschreibung der Geschichte zu wehren und das Andenken der damaligen Kämpfer hochzuhalten. Besorgt äußerte er sich über den Aufstieg der Chega-Partei, der für viele in Portugal unbegreiflich sei, aber zeige, »dass extrem rechte, faschistische Parteien offenbar in der Lage sind, die Sorgen und die Unzufriedenheit vieler aufzugreifen, auch leider vieler junger Leute«.

Hintergrund: Widerstand gewürdigt

Am Sonnabend wurde im Fort von Peniche im Norden von Lissabon das Museu Nacional Resistência e Liberdade eröffnet, das den politischen Gefangenen der Diktatur António de Oliveira Salazars gewidmet ist. Bis zu 2.500 Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und andere Regimegegner waren in dem Komplex zwischen 1934 und 1974 inhaftiert. Sie verbrachten Jahre ohne Prozess und Urteil, Folter war an der Tagesordnung. Der Ort war dafür berüchtigt, dass man von dort nie wiederkam. Auch PCP-Generalsekretär Benito Gonçalves überlebte die Inhaftierung nicht. Insassen waren ebenso Anführer von Streiks und Revolten wie Vertreter der Befreiungsbewegungen in den Kolonien.

Seit 2015 gibt es in Lissabon ein weiteres Museum in einer früheren Haftanstalt für politische Gefangene der Geheimpolizei PIDE. Das Aljube-Museum neben der Kathedrale widmet den politischen Biographien seiner Insassen, den antikolonialen Kämpfen, aber auch der illegalen Presse und der Zensur großen Raum. Die Salazar-Diktatur wird treffend charakterisiert mit ihrer Verehrung der traditionellen Familie, der Arbeit und des Vaterlandes. Auch Fluchtaktionen kommunistischer Insassen – ganz klassisch mit Bettlaken aus dem Fenster – werden im Detail nacherzählt.

Die Direktorin des Museums und PCP-Politikerin Rita Rato wandte sich am Freitag auf einer Konferenz antifaschistischer Veteranen der Vereinigung URAP an alle Aktivisten und politischen Gefangenen auf der Welt: »Wer im Untergrund leben muss, gibt den besten Teil des Lebens, um für die Demokratie zu kämpfen«, sagte sie. Sie erinnerte daran, dass es in Portugal dank des Umsturzes vor 50 Jahren heute eine Demokratie mit all ihren Errungenschaften gebe. Das Andenken an die Revolution aufzubewahren, bedeute, die Demokratie zu bewahren. Die Erinnerung an sie zu teilen, heiße Demokratie zu schaffen. In ihrem Museum jedenfalls ist die revolutionäre Vergangenheit zum Greifen nah. (cn)

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