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Aus: Ausgabe vom 27.04.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
ABC-Waffe

Flucht aus Breslau

Von Jan Decker
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Jeden Abend saßen acht Rüstungsingenieure still horchend vor dem Radiogerät in Hans Grambowskis Fachwerkhaus. Es lag abgelegen an einem dichten Wald im Breslauer Westen. Ihre Frauen konnten am Tag des Einmarschs dorthin fliehen.

Die Rote Armee rückte unermüdlich näher. Seit Tagen ahnten sie es, doch niemals sprachen sie in der Munitionsfabrik darüber. Ihr Direktor Speckhof war ein strammes Parteimitglied. Er hatte seine Lauscher überall postiert. Auf das Hören der feindlichen Radiosender stand die Todesstrafe. Deshalb erzählten die Rüstungsingenieure ihren Frauen, sie würden sich nach Feierabend in einer Kneipe amüsieren.

Jeder kam allein, nie zur gleichen Zeit. Einer stellte sein Fahrrad an die Oder­brücke und ging die restlichen Kilometer zu Fuß. Ein anderer stellte sein Auto am nahen Flugplatz ab, ging in die Schalterhalle und fragte nach Flügen. Dann schlenderte er unbekümmert pfeifend zu dem Fachwerkhaus.

Wenn ein Flugzeug landete, ging Hans Grambowskis Frau zum Fenster. Ihre Augen huschten über die Straße, die Gardine hatte sie ein Stück weggezogen.

»Es ist nicht gut, was ihr macht«, sagte sie. »Kopf und Kragen wird es uns kosten.«

»Ach, und wann wird das sein?« fragte Sebastian Ruttner.

»Eines Tages, wenn die Russen kommen!«

»Seid still«, zischte Hans Grambowski. »Ich glaube, es passiert gerade etwas.«

An diesem Tag trat die Rote Armee über die Weichsel.

»Was sollen wir nur machen?« fragten die acht Rüstungsingenieure ihren Direktor Speckhof am nächsten Morgen.

Gerade hatten sie von ihm erfahren, dass Hans Grambowski an die Front gehen sollte. Er saß mit traurig gesenktem Kopf vor ihnen, die blaue Kappe lag reglos in seiner Hand.

»Aber meine Frau«, schluchzte Hans Grambowski. »Ich kann sie nicht in Breslau zurücklassen, wenn die Rote Armee kommt.«

Sebastian Ruttner legte ihm seinen kräftigen Arm um die Schulter.

»Keine Sorge«, sagte er. »Ich werde deine Frau beschützen. Nichts wird ihr zustoßen, da kannst du Gift nehmen.«

Gegen den Frontbefehl konnten sie nichts machen. Höchstens ihr Direktor Speckhof, der eine Stimme beim Gauleiter Hanke hatte.

»Mehr produzieren«, dröhnte Direktor Speckhofs Stimme.

Hinter ihnen lärmte die Munitionsfabrik.

Den acht Rüstungsingenieuren blieb die Antwort im Halse stecken. Man hatte sie von der Front zurückgestellt. Kriegswichtige Produktion, das war lange ihr Schutz und Segen gewesen. Etwas hatte sich geändert. Gleich nach der Tat des schrecklichen Führers, der Breslau zur Festung ernannt hatte. Ihre Stadt war vor der Roten Armee bis zum letzten Mann zu verteidigen.

Sie kamen nach Hans Grambowskis Einberufung an die Front nicht mehr in seinem Fachwerkhaus zusammen. Die Gefahr war zu groß für sie, außerdem hatte Hans Grambowskis Frau eine heilige Wut auf sie alle. Wenige Tage später stand Sebastian Ruttner mit einem Blumenstrauß vor dem Fachwerkhaus. Als er ihren Namen rief, schüttete sie kurzerhand einen Eimer Wasser aus dem Fenster.

»Die kannst du wieder mitnehmen«, rief sie. »Auch dich erwischt es bald.«

Es kam der Tag.

Über Lautsprecher wurde der Evakuierungsbefehl von Gauleiter Hanke verkündet. Frauen und Kinder hatten Breslau zu verlassen. Die sieben Rüstungsingenieure packten hastig die Koffer für ihre Frauen. Einige drückten zum letzten Mal ihre Kinder. Die Frauen saßen laut weinend in der Küche und wollten es nicht glauben. Sie durften aber nicht zu lang zaudern, eine große Menschenmenge schob sich auf den Breslauer Hauptbahnhof zu.

Sebastian Ruttner arbeitete mit den Kollegen in der Munitionsfabrik, als die Lautsprecher den Evakuierungsbefehl durchgaben. Ihr Direktor Speckhof war nicht zu sehen. Also schnappten sie ihre Fahrräder und rasten so schnell wie der Wind zu ihren Häusern.

Die Menschenmenge vor dem Hauptbahnhof quoll immer weiter an. Tief bis in alle Straßen Breslaus hinein standen Frauen und Kinder gedrängt. Hans Grambowskis Frau kam nicht einmal in die Nähe des Bahnhofs.

Da erging der nächste Befehl von Gauleiter Hanke. Frauen und Kinder schickte er zu Fuß aus der Stadt. Viele Alte und Kranke waren dabei, sie alle hatten durch den Januarschnee zu gehen. Die eisige Kälte kroch in ihre Mäntel. Einige Kilometer hinter Breslau starben die ersten.

Als sie die erfrorenen Leichen am Wegrand liegen sahen, waren die ersten Frauen mit ihren Kindern zurückgekehrt. Ein hektisches Treiben entstand. Viele Frauen weigerten sich, die Stadt auf dem Fußweg zu verlassen. Jeder Mann suchte unter den Zurückgekehrten seine Familie. Laute Schreie waren überall auf den Straßen Breslaus zu hören. Es war ein schrecklicher Tag, und er nahm kein Ende.

Die Züge fuhren nicht mehr.

Nun machten Schreckensmeldungen die Runde. Eine Frau sagte: »Ich habe die Frau eines anderen gesehen, sie liegt erfroren am Wegrand.« Eine andere Frau sagte: »Die Rote Armee hat Breslau eingekesselt.« Höllisch ging die Angst vor Raub und Schändung um. Einige Breslauer hielten es nicht länger aus. Sie erhängten sich an der Wäschestange. Oder sie schossen eine Kugel in ihren Kopf, die Kinder nahmen sie in ihrer Verzweiflung mit.

Sebastian Ruttner lief aufgeschreckt durch die Straßen. Er wollte seine Frau um jeden Preis finden. Auf seinem Weg sah er viele andere. Sie hielten Pappschilder in die Nacht oder kauerten eingesunken vor den Kirchentüren. Oft rief er den Namen seiner Frau. Er hörte viele andere, manche weinten die Namen ihrer Angehörigen schon totgesagt vor sich hin. Aber seine Frau fand er nicht.

Längere Zeit saß er völlig geistesabwesend auf dem Küchenstuhl, nur seine Finger spielten mit einer Paketschnur. Seine Frau erwartete ein Kind von ihm. Lag sie erfroren am Wegrand? Nicht einmal Hans Grambowskis Frau hatte er retten können, obwohl er es seinem Kollegen versprochen hatte. Wie sollte er morgen aufwachen?

Also ging Sebastian Ruttner noch einmal los. Es war schon tief in der Nacht, die Straßen hatten sich nicht geleert. Viele Frauen bettelten ihn an, er solle mit ihnen aus Breslau fliehen. Ein starker Mann an ihrer Seite, so würde ihnen die Rote Armee nichts antun.

Hans Grambowskis Frau war nicht aus Breslau geflohen. Sie saß in der Küche des kleinen Fachwerkhauses. Als Sebastian Ruttner seinen Arm um sie legte, wehrte sie ab.

»Ihr habt mir nur Unglück gebracht«, fluchte sie.

Noch einmal versuchte er, den Arm um sie zu legen.

»Komm in mein Haus.«

»Geh wieder, lass mich.«

Sie weinte mehrere Stunden. Schließlich nahm Sebastian Ruttner sie auf, er trug ihren zitternden Körper durch Breslau. Seine Augen suchten rastlos die Straßen nach seiner Frau ab. Von ihr fehlte jede Spur.

Mittlerweile hatten sich vor dem Hauptbahnhof viele Frauen und Kinder zum Nachtlager versammelt. Aber die Züge fuhren nicht mehr. Selbst wenn sie fuhren, gab es für ihn keine Möglichkeit, aus Breslau zu entkommen. Jeder wehrfähige Mann wurde aufgehalten. Sie kamen gar nicht erst in die Nähe der Züge. Die zu Fuß fliehenden Männer ließ Gauleiter Hanke erschießen.

»Bleib nicht«, hatte seine Frau gefleht. »Euch schickt er alle in den Krieg.«

Es war schon am frühen Morgen, als sie zu Sebastian Ruttners Haus gelangten. An seiner Seite schleppte sich Hans Grambowskis Frau die Treppe hinauf. Dann legten sie sich hin.

Das Haus war immer noch leer. Aber jemand hatte die Paketschnur vom Küchentisch genommen.

»Kopf und Kragen«, flüsterte Hans Grambowskis Frau.

Als er aufwachte, war die Bettstelle neben ihm leer. Hans Grambowskis Frau war verschwunden. Sebastian Ruttner versuchte, ein Frühstück einzunehmen. Doch sein Magen wehrte sich heftig. Also fuhr er in die Munitionsfabrik. Nicht einmal ihr Direktor Speckhof war erschienen, die große Werkhalle lag still und verlassen da.

Immer noch drängten Frauen und Kinder in der Hoffnung auf neue Züge zum Breslauer Hauptbahnhof. Sebastian Ruttner hielt nach seiner Frau Ausschau. Er konnte sie nirgendwo finden, auch kein anderes ihm bekanntes Gesicht sah er.

Bald kam ein neuer Befehl über die Lautsprecher. Alle wehrfähigen Männer sollten sich auf dem Breslauer Ring versammeln. Das war sein Todesurteil, dachte Sebastian Ruttner. Aber er musste sich dort zeigen, sonst würde man ihn erschießen. Bei der geringsten Mordlust und bei dem geringsten Verdacht. Die Lautsprecher wiederholten den Befehl unermüdlich.

Am Mittag kauerte Sebastian Ruttner hinter einer Säule am Breslauer Ring, wo das prächtige Rathaus stand. Im allgemeinen Treiben fiel er nicht auf. Einige SS-Männer standen erhöht auf der Ladefläche eines Militärwagens. Sie riefen die Namen der Wehrfähigen von einer Liste ab. Es war das letzte Aufgebot. Auch die sieben Rüstungsingenieure fanden sich auf der Liste.

Das stimmte nicht ganz.

Sechs Rüstungsingenieure hatten die SS-Männer bereits aufgerufen. Zuletzt Walter Ostheim, den ältesten Rüstungsingenieur. Er stand kurz vor der Rente, nun musste er im letzten Aufgebot kämpfen. Sebastian Ruttner konnte ihn nicht sehen, der Breslauer Ring war mit Köpfen und Beinen zugestellt. Wen es erwischte, der hatte gleich vorzutreten. Nach und nach leerte sich der Breslauer Ring unter dem Aufdröhnen der abfahrenden Militärwagen. Wo die Männer hingebracht wurden, das wusste niemand. An die Front oder in eine der Kasernen am Rand Breslaus. Es war egal, solange er nicht mitfahren musste.

»Wenn es geht, will ich fliehen«, dachte er.

Sebastian Ruttner kauerte immer noch versteckt hinter der Säule am Breslauer Ring, als sein Buchstabe zur Reihe kam.

Richter. Rollmann. Ruffel. Sander. Sarowski.

Kein Zweifel. Man hatte seinen Namen auf der Liste vergessen. Sollte er freiwillig hervortreten? Nicht eine Sekunde dachte er daran. Allerdings gleich fliehen, das konnte er unmöglich. Eine geschlagene Stunde verging, bis der letzte Militärwagen vom Breslauer Ring fuhr.

Es war eine lähmende Stunde, in der Sebastian Ruttner seine Flucht insgeheim schon verwarf. Aber kein Mensch entdeckte ihn hinter der Säule und kein Mensch schwärzte ihn an. So blieb Sebastian Ruttner allein, obwohl er unter vielen war.

Lange ging er nicht aus seinem Versteck. Er kauerte scheu hinter der Säule. Eine zweite Stunde lief ab, eine dritte. Dann setzte er einen Fuß vor den anderen. Sebastian Ruttner schlich zur nächsten Säule, er schlich zum Ende der Säulen, er lief von Hausschatten zu Hausschatten.

Und plötzlich stand er vor einem Haus, das er kannte.

In dem Haus wohnte Siegfried Kraft, einer der acht Rüstungsingenieure in der Munitionsfabrik. Auch ihn hatten die Militärwagen aufgeladen. Früher hatte es seinen Sohn Alexander erwischt, der Frontbefehl war dem jungen Hilfsarbeiter von Direktor Speckhof persönlich zugesteckt worden. Nun reiste ihm sein Vater an die Front nach.

Er legte sich in die Kellergrube von Siegfried Krafts Haus. Ein paar Ratten flohen kreischend in den Keller, als Sebastian Ruttner in das Treppenhaus schlich. Die Grube kannte er gut, sie war Siegfried Krafts Schnapslager gewesen.

Jetzt war keine Flasche Schnaps mehr dort.

Leer war die Kellergrube, totenstill dazu. In eine gammelige, nach Rattenkot stinkende Decke gewickelt lag Sebastian Ruttner da. Mit der Hand wischte er die Ratten von seinem Gesicht. Ihr hungriges Kreischen war ganz nah an seinem Ohr, bald schon ein vertrautes Geräusch. Drei Tage und drei Nächte blieb er dort.

Niemand sonst folgte ihm in die Kellergrube.

»Ich kann fliehen, wenn ich will«, dachte Sebastian Ruttner. »Die Welt sorgt für mich, wenn ich es zulasse.«

Um seine Schultern hing die gammelige Decke, die ihn gewärmt und vor den Ratten geschützt hatte. So ging er aus der Grube. Seine Beine schmerzten, doch sie trugen ihn. Damals war Sebastian Ruttner 26 Jahre alt. Aber die Grube hatte ihn verändert, deshalb redete er seine Beine wie lang vertraute Freunde an.

»Ihr guten Beine«, dachte Sebastian Ruttner.

Hoch in die Küche trugen sie ihn. Auch dort jagten die Ratten verschreckt davon. Etwas Hartwurst fand er, vor allem Zwieback und eingelegte Gurken. Das Wasser zum Trinken schöpfte er aus einer bauchigen Tonne im Garten. Sehr langsam und mit vor Durst geweiteten Lippen trank er das Wasser. Es war eine sternenklare Nacht, aus der Ferne hörte man das Flakfeuer der Roten Armee. Doch Sebastian Ruttner dachte nicht an das Flakfeuer.

»Siegfried Kraft hat für mich gesorgt«, dachte er.

Und wieder hatte sich etwas in ihm verändert. Nie hatte er so an einen der sieben Rüstungsingenieure in der Munitionsfabrik gedacht, an den stillen Hans Grambowski oder den unbekümmerten Siegfried Kraft, der in diesem Haus seine Frau geliebt und den Sohn Alexander großgezogen hatte. Sebastian Ruttner dachte an ihn als einen guten Freund.

Auch der andere Mann in der Grube war ein Freund.

Es gab kein Zurück mehr, Sebastian Ruttner musste losgehen. Das hatten sie ausgemacht mit ihren Klopfzeichen. Der nächste Transportzug ging in dieser Nacht, er würde auf ihn springen und Breslau verlassen. Wenn alles klappte und die Transportzüge immer noch zur Munitionsfabrik fuhren, war Sebastian Ruttner frei. In der Nacht darauf hatte der andere Mann in der Grube seine Flucht.

Jeder für sich, das war besser.

Lange hatten sie ihren Plan mit Klopfzeichen beraten, gleich in der ersten Nacht. Beide kannten sie Breslau, das war gut. Zwei Kilometer lief man von Siegfried Krafts Haus zum Güterbahnhof. Dort wollten sie auf einen Güterzug springen, zuerst Sebastian Ruttner. Sie hatten ausgemacht, getrennt zu fliehen. In Prag würden sie sich treffen und zum ersten Mal ins Angesicht sehen.

In dieser sternenklaren Nacht schlich Sebastian Ruttner langsam an den Güterbahnhof heran. Seine müden Beine zögerten, doch sie trugen ihn. Wie ein bärtiger Vagabund sah er aus, der sich unter einer gammelnden Decke aufwärmte.

Die Gleise schienen hell wie die Neonröhren in der Munitionsfabrik. Sebastian Ruttner kauerte sich unter das schmale Vordach eines Stationshäuschens. Einige Stunden vergingen. Keine gute Nacht für eine Flucht war es, Sebastian Ruttner brauchte Wolken.

Der Güterzug fuhr noch, jede Nacht versorgte er die Munitionsfabrik mit neuem Rohstoff. Weil er ohne Ladung nach Prag fuhr, blieb er unbewacht. Der andere Mann in der Grube wusste davon, Sebastian Ruttner hatte es ihm hinübergeklopft. Direkt von der Munitionsfabrik kam der Güterzug, wo er seinen Rohstoff abgeladen hatte. Es geschah ohne eine Männerhand. Der Zugführer kippte die Güterwagen mit einem Hebel auf den Hof. Ihre durchsichtigen Gitter waren zu niedrig, hier konnte sich niemand verstecken. Es blieben die Kupplungsstangen, die mit einer Stahlplatte an den Güterwagen festgemacht waren. Zusammen ergaben sie die Länge eines ausgewachsenen Manns.

»Dort ist mein Ruheplatz«, dachte Sebastian Ruttner.

Leise zischend fuhr der Transportzug an.

Als Sebastian Ruttner auf die Kupplungsstangen hochsprang, hörte er plötzlich ein Hundebellen. Dann riefen Stimmen grob durcheinander.

Sebastian Ruttner wusste, es war der andere Mann.

Über klappernde Schwellen fuhr der Transportzug eine Nacht lang. Einmal hielt er, das war schon hinter Breslau. Sebastian Ruttner döste auf den Kupplungsstangen, mit dem Kopf auf einer Stahlplatte, sie war schneidend hart. Nur die gammelnde Decke aus der Grube, unter seinen Kopf geschoben, ließ ihn weicher liegen. Der Freund hatte für ihn gesorgt.

Quietschende Bremsen erschreckten ihn. Nach einer endlosen Zeit stand der Transportzug still. Lichter waren über einer nachtschwarzen Talsohle zu sehen. Vermutlich ein Bauernhof, die Gegend bestand aus nichts als großen Ackerflächen und gelegentlich einem dichten Wald. Angestrengt horchte Sebastian Ruttner in die Nacht hinein. Ein Hund bellte in der Ferne, es war Hoffnung. Nie zuvor hatte Sebastian Ruttner ein Hundebellen so gehört.

»Hier sollte ich abspringen«, dachte Sebastian Ruttner.

Doch wenn einer mit der Eisenstange angeschlichen käme? Auch der Zugführer konnte morden, es war Krieg. Ein falsches Wort reichte, ein falscher Blick. Der andere Mann in der Grube würde dann sterben. Sebastian Ruttner durfte nicht abspringen, auch wenn der Hund ihn mit seinem Bellen anlockte.

Keine einzige Wolke hing über der nachtschwarzen Talsohle. Er hielt sich an die Verabredung mit dem anderen Mann aus der Grube. In zwei Tagen wollten sie sich am Fuß der Prager Burg treffen, so hatten sie es abgeklopft. Ihre Verabredung galt, auch wenn der andere Mann längst verhaftet war. Langsam rollte der Güterzug an, das Hundebellen verschwand in einem dichten Wald. Auch die Lichter in der Ferne und der Bauernhof verschwanden.

»Meine Frau liebe ich«, dachte Sebastian Ruttner.

Jan Decker, Jahrgang 1977, lebt und arbeitet als Schriftsteller, ­Essayist und Literaturwissenschaftler in Wien. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle am 16./17. September 2023 »Ein bisschen Meeresleuchten«

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