junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Dienstag, 7. Mai 2024, Nr. 106
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 27.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Im Zweifel das Richtige

150 Jahre Karl Kraus: Was Linke mit Sprachkritik anfangen können
Von Stefan Gärtner
11.jpg
Feind der Phrase: Karl Kraus (28.4.1874–12.6.1936)

Karl Kraus, am 28. April vor 150 Jahren im böhmischen Gitschin (Jičín, deutsch heute Jitschin) geboren, war kein Linker im engeren Verstand. In seinen frühen Jahren war er Reaktionär, dann bürgerlicher Antimilitarist, gegen Ende suchte er Rettung vor Hitlers »dritter Walpurgisnacht« im Austrofaschismus – als kleineres Übel. Kraus starb 1936, und das Schlimmste blieb ihm erspart.

Kraus, das weiß man, auch wenn man sonst nichts von ihm weiß, betrieb Sprachkritik, gehörte also zu den Leuten, die sich heute als »Sprachpfleger« verächtlich machen, weil sie, statt Phrase und Quark anzuzeigen, lieber gegen »Denglisch« stänkern, während die Welt so selig im Quark schwimmt wie zu Krausens Zeiten. Die Phrase ist der Tod des Gedankens – wer nicht schreiben kann, kann auch nicht denken, hat der Krausianer und Kommunist Hermann L. Gremliza gelehrt –, und so insinuiert der allgegenwärtige »brutale russische Angriffskrieg«, es gebe nichtbrutale Angriffskriege, wie der Westen ja auch nicht angreift, sondern Menschenrecht und Ordnung wiederherstellt. (Ein ehemaliger ORF-Redakteur berichtet in seinem Blog, im Sender sei, als die »Koalition der Willigen« gegen Saddam Hussein marschierte, das Wort »Angriffskrieg« verboten gewesen.)

Weil es im Auge des Betrachters liegt, ob es sich jeweils um einen gerechten oder unrechten, guten oder bösen Krieg handle, wird so gern das Etikett »Hitler« bemüht, um einen Krieg als gerecht zu kennzeichnen, was in der Ukraine die kuriose Folge hat, dass Nazis gegen Nazis kämpfen. Dass der russische Krieg bei allem, was ihn hat auslösen helfen, ein »böser« ist, bleibt unbeschadet davon, dass ein Krieg, den die USA gegen ein linksrevolutionär gewordenes Mexiko führen würden, gewiss eine »Intervention« wäre; und schon sind wir bei Kraus, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs vom »Schauspiel, wie der Intellekt auf das Schlagwort einschnappt, wenn die Persönlichkeit nicht die Kraft hat, schweigend in sich selbst zu beruhen« schrieb, »und die Aufopferung der führenden Geister ist so rapid, dass der Verdacht entsteht, sie hätten kein Selbst aufzuopfern gehabt, sondern handelten vielmehr aus der heroischen Überlegung, sich dorthin zu retten, wo es jetzt am sichersten ist: in die Phrase«.

Denn die Phrase ist immer Nachbeten, Affirmation, der Arsch an der Heizung, und Kraus musste kein Linker sein, um einen linken Kampf gegen das Phrasenwesen zu führen. Dazu passt, dass Sprachkritik bei Kraus eine unmittelbar moralische Angelegenheit ist. Die sicher zentrale Stelle im Aufsatz »Die Sprache« lautet: »Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in einer geistigen Disziplin, die gegenüber dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem anderen Lebensgut zu lehren. Wäre denn eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel? Hätte er denn nicht vor allem materiellen Wunsch den Anspruch, des Gedankens Vater zu sein? Alles Sprechen und Schreiben von heute, auch das der Fachmänner, hat als der Inbegriff leichtfertiger Entscheidung die Sprache zum Wegwurf einer Zeit gemacht, die ihr Geschehen und Erleben, ihr Sein und Gelten, der Zeitung abnimmt. Der Zweifel als die große moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis heute verschmäht hat, wäre die rettende Hemmung eines Fortschritts, der mit vollkommener Sicherheit zu dem Ende einer Zivilisation führt, der er zu dienen wähnt.« Wär’s nicht eine Phrase, wir müssten finden: von atemberaubender Aktualität.

Respekt vor der Sprache ist Respekt vor dem Leben selbst. Kein Krieg, keine Gewalt, keine höhere Untat ohne das formatierte Denken, das Phrase zeugt und von Phrase gezeugt wird, und eine Revolution – so weit kann man gehen – wird falsch, wenn die Phrasen beginnen. Schon darum muss kein Linker sein, wer darauf achtgibt, was und wie er es sagt; es gibt – needless to say – nichtlinke Stilkunst, so wie es linkes Schwätzen gibt. Aber der Zweifel, diese Voraussetzung des »Glücks, das im Auge des Denkenden aufgeht« (Adorno), ist links, weil er vom Über-Ich weiß und die andere Möglichkeit, deren Existenz linke Prämisse ist, nicht verraten kann. Solch unverhärteter Dialektik bliebe dann das Dogma erspart, freilich auch die marxistisch-leninistische Gewissheit, soweit die Diktatur des Proletariats (und erst recht seiner Bürokratie) den Widerspruch herausfordert. Dass er kriminalisiert wurde – werden musste? –, war der Anfang vom Ende, obwohl das gewiss ein bourgeoiser Einwand ist.

Denn im schlechteren Fall ist dieses unbeirrte »Auch die andere Seite werde gehört« bloß eine kulturbürgerliche Übung, die dafür sorgt, dass das ganz andere Gedankenspiel bleiben kann, weil Revolution die Gewalt jener Zweifelsferne wäre, die auch Linke eint, was immer sie sonst unterscheiden mag. Doch bevor es, wie Adorno spät mahnte, »gegen den Gedanken als solchen« geht, kann Kraus dabei helfen, ihn erst einmal zu haben, was immer daraus folgt. Peter Hacks: »Das Problem aller gegenwärtigen Propaganda ist, dass man dem Imperialismus, der mehr Grund zu Vorwürfen bietet als jede Gesellschaftsform sonst, gar nichts vorwerfen kann: weil ihm gelungen ist, den Leuten alle Kriterien für recht und unrecht, wahr und falsch, schön und hässlich aus den Hirnen zu waschen. Nichts gilt mehr, und wie argumentieren, wo nichts gilt?«

Kraus, und das macht ihn anstrengend, gilt. Das Komma, das er an der falschen Stelle sieht, ist ein direktes, unhintergehbares Kriterium für wahr und falsch, schön und hässlich, und wer nach der Kraus-Lektüre etwa den Unterschied zwischen »nur mehr« und »nur noch« begriffen hat, weiß, wie man sich Gedanken macht. Und zögert vorm je treffenden Wort: ob es denn wirklich trifft, und zögert, umgekehrt, erst recht vorm Schlagwort, laute es nun »Rückkehrrecht«, »brutaler Angriffskrieg«, »Fortschritt« oder »Freiheit«. Und auf der Hut dürfen Linke ruhig doppelt sein, wenn die unlösbare Aufgabe darin besteht, den Gedanken in die Revolution zu retten wie die Revolution im Gedanken. Wer hier im Training bleiben will, liest Kraus, dessen Unbedingtheit die Bedingtheit zur Bedingung hat.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Mehr aus: Feuilleton