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Aus: Ausgabe vom 27.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Westjordanland

Leben im Stillstand

Bewohner von Umm Al-Khair in Hebron in ständiger Angst vor Angriffen israelischer Siedler und Militärs
Von Anne Herbst, Masafer Yatta
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»Unser Leben ist ein Alptraum«: Lehrer Awdah Hathaleen (r.) mit anderen Bewohnern von Umm Al-Khair

Ein zionistischer Siedler heizt mit seinem Ryker, an dessen Heck er eine riesige israelische Nationalfahne befestigt hat, durch das Beduinendorf an den Osthängen der südlichen Hebronhügel. Solche Provokationen sind an der Tagesordnung in Umm Al-Khair in Masafer Yatta, einer Ansammlung von 19 kleinen Siedlungen im Gouvernement Hebron. Und überall lauern Gefahren. Schon auf der beschwerlichen Fahrt durch die Wüstenlandschaft haben Palästinenser aus benachbarten Orten gewarnt: »Passt auf, dass ihr euch nicht verirrt und den Siedlern nähert – die schießen sofort!«

In der sengenden Mittagssonne versammeln sich Einwohner von Umm Al-Khair unter einem Zeltdach vor dem Gemeindehaus – keine 50 Meter von dem Stacheldrahtzaun und der Schranke entfernt, die das Dorf von dem zionistischen Moschaw »Karmel« trennen. Der Kontrast könnte größer kaum sein: Karmel – 1981 auf konfisziertem Land zunächst als Checkpoint des israelischen Militärs errichtet und kontinuierlich ausgebaut – ist eine blühende Oase. In Umm Al-Khair, das mittlerweile von Norden, Süden und Westen von der rapide wachsenden Siedlung eingeschlossen ist, fehlt es an allem.

»Wir sind nicht ans Wassersystem und nicht ans Stromnetz angeschlossen«, erzählt Awdah Hathaleen, ein junger Lehrer, der die Kinder in der mit Metalltor und hohem Zaun verbarrikadierten Schule des Dorfes in Englisch unterrichtet. Man behilft sich mit Wassertanks und Solarpanels, aber im Winter reichen diese für die Energieversorgung der 55 hier lebenden Familien nicht aus. Neu bauen dürfen die Palästinenser ausschließlich nach Genehmigung derselben israelischen Zivilverwaltung, die für die regelmäßig angerichteten Zerstörungen ihrer Häuser und Infrastruktur verantwortlich ist – also praktisch nie. Das nächste Krankenhaus befindet sich in der zwölf Kilometer entfernten Stadt Yatta (in den Nullerjahren erlangte sie traurige Berühmtheit durch den Bombenterror der kahanistischen Siedlergruppe Bat Ayin). Deren Zubringerstraßen wurden von der israelischen Armee (IDF) gesperrt, sie ist nur noch über einen Umweg zu erreichen. Auf der eineinhalbstündigen Fahrt ist jederzeit mit Attacken durch die Besatzer zu rechnen, auch gegen Ambulanzen.

»Sie greifen Hirten an, stehlen Schafe und Ziegen, demolieren Autos«, sagt ein Bewohner. Andere berichten von Kidnappings und brutalen Razzien durch israelische Soldaten und Siedler, die nicht mehr voneinander zu unterscheiden seien, weil letztere in den Uniformen und mit den Befugnissen der IDF agierten. Frauen und Kinder würden nicht verschont. Häufig müssen Familien die kalten Nächte unter freiem Himmel verbringen.

»Unser Leben ist ein Alptraum. Seit dem 7. Oktober ist es so schlimm wie nie zuvor«, meint Dorfbewohner Ali. »Sie haben unseren Alltag zum Stillstand gebracht, und es gibt keinen sicheren Ort für uns«, beschreibt Hathaleen die drakonische Härte, mit der die Besatzer ihnen begegnen. »Sie erlauben nicht, dass wir mit ihnen sprechen, wir dürfen ihre Angriffe nicht dokumentieren.« Daher sei es jetzt besonders wichtig, dass ständig internationale Aktivisten anwesend sind. Derzeit halten sich sechs jüdische US-Bürger vom »Center for ­Jewish Nonviolence« (CJNV) in Umm Al-Khair auf.

Die meisten Einwohner leiden an psychischen Problemen. Einige wahrscheinlich durch früher erfahrene Kollektivtraumata: Zwei Drittel von ihnen stammen aus Flüchtlingsfamilien, die 1947–1949 im Zuge der Nakba 1948 aus der Region Tel Arad vertrieben worden waren.

»Wir suchen nach jeder noch so kleinen Quelle der Hoffnung, aber nirgendwo ist Licht«, sagt Hathaleen. Der Film »No Other Land«, der kurz den Fokus der Feuilletons der westlichen Medien auf Masafer Yatta lenkte, könne nur einen flüchtigen Eindruck der verzweifelten Lage vermitteln. »Sie wollen uns zum Schweigen bringen, und das schon seit mehr als 75 Jahren«, betont er. »Wir freuen uns über alle Solidaritätserklärungen, die uns erreichen. Aber nun ist es Zeit zu handeln«, so Hathaleen. »Wenn niemand die Israelis beim Töten stoppt, dann werden sie weitermachen. Wir Palästinenser sind Menschen, wir wollen leben, wir haben Träume. Schaut nicht auf uns, als wären wir nur Zahlen!«

Zum Abschied wollen noch einige Einwohner von Umm Al-Khair Botschaften loswerden: »Egal, welche Hautfarbe, welche Religion unsere Besucher haben – jeder, der wirklich wissen will, was wir denken und fühlen, ist hier herzlich willkommen«, spricht ein Mann eine Einladung aus. »Wir wissen, dass es Proteste in Deutschland gegen das gibt, was Palästinensern angetan wird. Das bedeutet uns sehr viel«, ruft ein anderer der Reporterin zu. »Bitte richten Sie unsere Grüße an alle Menschen dort aus, die uns beistehen.«

Hintergrund: Nakba in Masafer Yatta

Die Ansammlung von 19 palästinensischen Ortschaften mit insgesamt rund 6.500 Bewohnern liegt in einer Hügellandschaft südlich der Stadt Hebron im gleichnamigen Gouvernement im Westjordanland. Einige ihrer Dörfer fanden erstmals 1881 in historischen Dokumenten Erwähnung. Nach dem Krieg von 1967 wurde Masafer Yatta unter militärische und zivile Verwaltung Israels gestellt. Seit 1977 erheben israelische Regierungen Anspruch auf 3.000 Hektar von zwölf Ortschaften des Gebiets als IDF-Schießübungsplatz – nach internationalem Recht eine illegale Maßnahme. Deren Ziel sei, die arabische Bevölkerung zu vertreiben, bekannte der Politiker Ariel Scharon, damals noch Landwirtschaftsminister, 1981 offen.

Nach diversen Gewaltakten der IDF und einem jahrzehntelangen Rechtsstreit gab das Oberste Gericht Israels im Mai 2022 grünes Licht für die Zwangsumsiedlung von rund 1.000 Bewohnern. Diese sowie deren Vorfahren hätten zum Zeitpunkt der Aneignung des Gebiets durch Israel nicht dauerhaft dort gelebt, so die Begründung – zahlreiche Expertenberichte belegen das Gegenteil. »Am Ende wiederholt sich die Geschichte: ›Nakba after Nakba‹, jeder Nakba folgt eine neue«, kommentierte der Vorsitzende des Dorfrats von Masafer Yatta, Nidal Younes, die Entscheidung.

Weltweite Aufmerksamkeit erlangte Masafer Yatta durch den Dokumentarfilm »No Other Land« von dem palästinensisch-israelischen Regiekollektiv Basel Adra – sein Cousin wurde Ende 2023 von einem zionistischen Siedler erschossen –, Yuval Abraham, Hamdan Ballal und Rachel Szor. Er wurde bei der Berlinale im Februar 2024 uraufgeführt und ausgezeichnet. (ah)

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