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Aus: Ausgabe vom 26.04.2024, Seite 8 / Ansichten

Atlantische Maulhelden

Weitreichende US-Raketen an die Ukraine
Von Reinhard Lauterbach
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Mangelware anscheinend nicht allein in der Ukraine: »Patriot«-Luftabwehrsystem (Warschau, 7.2.2023)

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: In der führenden außenpolitischen Fachzeitschrift der USA schreiben drei Generalstabsoffiziere »privat« einen Beitrag mit der Aussage, »Europa« dürfe sich nicht von »der politischen Unzuverlässigkeit der USA abhängig machen«. So zu lesen seit Dienstag dieser Woche im Magazin Foreign Policy (FP). Die Folgerung der Autoren: »Die Europäer« – oder wenigstens einige von ihnen – müssten sich auf den Fall vorbereiten, dass sie eigene Bodentruppen wenigstens in die westliche Hälfte der Ukraine entsenden müssten, um Russland daran zu hindern, auch diese zu erobern. Solange sie dort nur Panzer instand setzten, Soldaten ausbildeten und Flugabwehrbatterien bemannten, könne ihnen ja gar nichts passieren, das sei ja kein direkter Kampfeinsatz. Der Widerspruch kam gleich darauf. Da ein solcher Einsatz außerhalb des NATO-Territoriums stattfinde, sei er auch nicht vom Artikel 5 des NATO-Vertrags gedeckt, also im Klartext: Die USA wären fein heraus und zu nichts verpflichtet. Einen Tag später zog der britische Spectator mit einem Beitrag ähnlicher Quelle und Tendenz nach.

Aus Stimmen wie diesen geht hervor, dass in Washington und London der Kreis der Stellvertreter inzwischen weiter gezogen wird. Nicht nur die Ukrainer sollen für die »regelbasierte Weltordnung«, die FAZ-Herausgeber Nikolas Busse am Mittwoch mit erstaunlicher Korrektheit als »eine Chiffre für die Hegemonie des Westens« darstellte, die Köpfe hinhalten, in der zweiten Welle dann auch »Europäer«. Bereitwillige gebe es ja: Polen, Balten, Skandinavier. Eventuelle Verluste müssten die europäischen Regierungen ihren Bevölkerungen dann halt auf eigene Rechnung »verkaufen«.

Das Argument der FP-Autoren, Russlands bisherige Eskalationsdrohungen seien ja »nur Bellen und kein Beißen« gewesen, ist dabei besonders gelungen: Wenn es so ist und sich daraus auf die Zukunft schließen lässt, dann würde ja nichts die geschätzten Amis und Briten hindern, sich ebenfalls am Boden in der Ukraine mit offen deklarierten Truppen zu »beteiligen«. Aber genau dies zu vermeiden ist ja Zweck der ganzen Argumentation. Mit anderen Worten: Die Autoren der Washingtoner und Londoner Thinktanks glauben ihren eigenen Versicherungen nicht; sie wollen nur dafür sorgen, dass die blutigen Folgen bei anderen anfallen.

Dass am Rande dieser ganzen Debatten die USA selbst zugeben, dass sie der Ukraine die weitreichenden Raketen geliefert haben, um einen russischen Stützpunkt auf der Krim anzugreifen, bedeutet, dass Washington entgegen seiner eigenen Rhetorik eine Eskalation billigend in Kauf nimmt. Die feinsinnige Unterscheidung im Westen, die Krim sei ja als russisches Territorium nicht anerkannt, ist in der Praxis nichts wert, wenn Russland solche Angriffe als Attacken auf eigenes Gelände behandelt, weil es das anders sieht.

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (30. April 2024 um 12:04 Uhr)
    Wenn die jW schreibt »Dass (…) die USA selbst zugeben, dass sie der Ukraine die weitreichenden Waffen«, also die ATACMS, »geliefert haben, um einen russischen Stützpunkt auf der Krim anzugreifen, bedeutet, dass Washington (…) eine Eskalation billigend in Kauf nimmt«, ist das wohl nur die halbe Wahrheit! Erstens erfolgt die »Zielzuweisung« offenbar mindestens teilweise durch NATO-Aufklärungsflugzeuge über dem Schwarzen Meer außerhalb der von Russland beanspruchten Territorialgewässer vor der Halbinsel, zweitens sind mit Sicherheit GIs als Berater bei den auf die Krim gerichteten Mittelstreckenraketenkomplexen im Einsatz. Letztere erleiden schon jetzt Verluste, werden jedoch erstere durch Russland angegriffen, steht der ganz große Krieg »aller gegen Russland« auf der Haustürschwelle! »Maulheldentum« ist das wohl nicht, eher ein bitterböses »Alles-oder-nichts-Spiel« › wie seit 2008 (Georgien) bzw. 2014 (Krim und Donbass) im Pentagon und im Weißen Haus kaltblütig geplant!
    »In 5 Jahren« könne Russland »uns angreifen«, jetzt demzufolge noch nicht, werde das aber »dann ganz sicher« tun (so der Bundeswehrboss C. Breuer und sein Minister), heißt im Klartext nicht anderes als »Wir müssen vorher, d. h. jetzt präventiv losschlagen«, was übrigens auch Hitler am 21. Juni 1941 gesagt hat!
  • Leserbrief von Hagen Radtke aus Rostock (26. April 2024 um 08:51 Uhr)
    Russland bzw. die russische Führung sieht ja ziemlich viel als »eigenes Gelände« an. Für einen Angriff auf einen NATO-Staat bräuchte Russland aber die Rückendeckung Chinas, von dem es wirtschaftlich mittlerweile völlig abhängig ist. Die Frage ist also eher, ob China Angriffe auf die Krim als solche auf russisches Territorium ansieht, gegen die Russland sich dann wehren dürfte. Und das ist nicht der Fall, China betrachtet die Krim nach wie vor als ukrainisches Territorium, denn für Abspaltungen vom Mutterland durch Volksentscheide hat China bekanntlich keine großen Sympathien.

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