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Aus: Ausgabe vom 18.04.2024, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Überstunden trotz Kurzarbeitergeld

Mitgenommen, weggenommen

Studie liefert Hinweise auf missbräuchliche Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld während Pandemie. Milliardenschwerer Schaden fürs Gemeinwesen
Von Ralf Wurzbacher
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Mehr arbeiten, während das Unternehmen Kurzarbeitergeld bezieht? Keine Seltenheit

Gelegenheit macht bekanntlich Diebe. Die Coronakrise war so eine Gelegenheit. Windige Maskendeals, Abrechnungsbetrügereien mit Teststellen, Versteckspiele mit Intensivbetten zwecks Fördergelderschleichung, Impfstoffbeschaffungs- und -vernichtungsexzesse mit freundlicher Unterstützung der EU-Kommissionschefin – die Pandemie war ein Eldorado für Abzocker, und die Schäden für den Steuerzahler könnten in den dreistelligen Milliardenbereich reichen. Nun steht ein Vorwurf mehr im Raum: Es dürfte »in nennenswertem Umfang zu Mitnahmeeffekten« beim Bezug von Kurzarbeitergeld gekommen sein, teilte am Dienstag das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit. Eine dazu vorgelegte Studie hat zwar keine endgültige Beweiskraft, liefert aber starke Indizien dafür, dass sich hiesige Unternehmer über alle Branchen hinweg mit Hilfe des Instruments in beträchtlichem Ausmaß auf Staatskosten bereichert haben.

Für die Erhebung befragte das IAB zwischen November 2020 und Februar 2021 in einer repräsentativ ausgewählten Stichprobe Beschäftigte, die selbst Kurzarbeitergeld bezogen. Daneben flossen in die Auswertung administrative Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) ein, der das Institut angegliedert ist. Damit gingen die Ergebnisse »alleine auf die subjektiven Einschätzungen« der Beschäftigten zurück, die auf »teilweise unvollständigen Informationen über den Kurzarbeitsumfang beruhen mögen«, erläuterten die Forscher. Die Sichtweise der »Arbeitgeber« könne dem nicht gegenübergestellt werden. Die Befunde sind deswegen nicht weniger eindrucksvoll. 39 Prozent der Teilnehmer gaben an, ihre Arbeitsmenge beziehungsweise Arbeitsaufgaben seien während der fraglichen Zeit unverändert geblieben. 21 Prozent äußerten, mehr Stunden gearbeitet zu haben, als die Abrechnung des Kurzarbeitergeldes vorsah. Selbst wenn diese Zahlen nicht punktgenau die Dimension des Missbrauchs dokumentieren, liegt der Schluss doch auf der Hand: Unter dem Vorwand des Gesundheitsnotstands haben erkleckliche Teile der deutschen Unternehmerschaft öffentliche Mittel abgegriffen, die ihnen gar nicht zustanden.

Begünstigt wurde dies noch durch die seinerzeit deutlich aufgeweichten Kriterien, die einen Anspruch begründeten. Betriebe können Kurzarbeit anzeigen, wenn es aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen eines unabwendbaren Ereignisses zu einem vorübergehenden Arbeitsausfall kommt. Dieser muss sich auf mindestens zehn Prozent bei einem Drittel der Beschäftigten belaufen. Während der Pandemie – die Sonderregelungen galten bis Ende Juni 2023 – genügte schon eine Einbuße von zehn Prozent bei nur einem Zehntel der Belegschaft. Zudem mussten Arbeitszeitkonten anders als zuvor nicht mehr ausgeglichen werden, und die maximale Bezugsdauer wurde von sonst zwölf auf bis zu 28 Monate verlängert. Die Förderung der BA beläuft sich üblicherweise auf 60 Prozent des letzten Nettoarbeitslohns für das weggefallene Arbeitspensum, für Angestellte mit mindestens einem Kind auf 67 Prozent. Zu Pandemiezeiten wurden unter bestimmten Voraussetzungen bis zu 80 Prozent bewilligt, mit Kind 87 Prozent.

Es gab also allerhand und viel mehr zu holen als in den Jahren davor, wenn die Geschäfte mal nicht so liefen wie gewünscht. Das dürfte nicht wenige verlockt haben, auch bei eigentlich vollen Auftragsbüchern und normalem Arbeitsvolumen den Staat zu erleichtern. Mitte Februar 2022 hatte die BA die bis dahin verausgabten Mittel auf 42 Milliarden Euro beziffert, mit der Prognose, dass es am Ende 46 Milliarden Euro werden könnten. Das sei »gut angelegtes Geld«, befand damals der inzwischen abgelöste BA-Chef Detlef Scheele. Legt man die knapp 40 Prozent der bei der Studie Befragten zugrunde, die in Kurzarbeit so viel zu tun hatten wie davor auch, könnten deutlich über 15 Milliarden Euro rechtswidrig ausgeschüttet worden sein. Das liefe dann unter »herausgeworfenes Geld«, das heute dem Gemeinwesen fehlt. Was folgt daraus für das IAB-Forscherteam? »Für eine Krisensituation, in der Kurzarbeit attraktiver ausgestaltet wird und der Zugang erleichtert wird, sind zusätzliche Kontrollen notwendig.« Bedauerlicherweise wird bei den staatlichen Aufsichtsorganen seit Jahrzehnten eisern gekürzt. So kommt eines zum anderen.

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