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Aus: Ausgabe vom 18.04.2024, Seite 12 / Thema
Kurvenrebellen

Derby on Fire

Serie. Hannover 96 und Eintracht Braunschweig sind Rivalen aus Tradition – auf dem Rasen, auf den Rängen. Das Regionalduell ist auch ein Tummelplatz innenpolitischer Hardliner. Staatsfeind Fan (Teil 1)
Von Oliver Rast
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Große Pyroshow, Ordnungskräfte machtlos. Bengalische Feuer im Eintracht-Stadion im Block der Hannoveraner (Braunschweig, 14.4.2024)

Sie elektrisieren Fanmassen extra: Stadt- oder Regionalduelle. Das Niedersachsenderby ist eines davon. Der Hannoversche Sportverein von 1896 gegen den Braunschweiger Turn- und Sportverein Eintracht von 1895 (BTSV); oder kürzer: Hannover 96 contra Eintracht Braunschweig. Das Fußballduell der größten und zweitgrößten Stadt Niedersachsens »gehört zu den wichtigsten, spektakulärsten und spannendsten, die wir im deutschen Fußball haben«, befand Fanforscher Harald Lange kürzlich gegenüber dem NDR.

Solcherlei sportliche Zweikämpfe seien das Salz in der Suppe, und ein Sieg mitunter wichtiger als das Abschneiden in der Meisterschaft, weiß Lange von der Universität Würzburg. »Den Fans ist die Vorherrschaft im Land und in der Nachbarschaft enorm wichtig. Deswegen bringen sie ganz viele aufgeladene Emotionen mit rein in so ein Derby.« Bisweilen entlädt sich die Emotion. Wie am 5. November im vergangenen Jahr beim zweitklassigen Traditionskick der BTSVler von der Oker bei den 96ern von der Leine. Ein Riesenaufreger, etwa für Politiker der Länder und des Bundes. Folglich schaffte es »Fangewalt« gut einen Monat später auf die Agenda der Herbsttagung der IMK, der Innenministerkonferenz. Nur, was war diesmal so besonders? Dazu später. Zuvor zur Vorgeschichte.

Rivalen aus Tradition

Es klingt wie ein Wandkalenderspruch: Fußball ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, Zoff und Stunk werden tradiert. Die Arena ist ein Ort der Konfliktaustragung, eine Bühne, alte Rechnungen zu begleichen. Exakt so scheint es bei den Stadtrivalen Hannover und Braunschweig zu sein.

Aber wo liegt der Ursprung dieses Wetteifers? Auskunft darüber gibt die regionalgeschichtliche Forschung, so Bettina Lenner und Florian Neuhauss in einem Beitrag vom 1. November 2023 auf der Homepage des NDR. Hannoveraner versus Braunschweiger, ein klassischer Nachbarschaftskonflikt. Beide Städte konkurrierten um die Hegemonie. Jahrhundertelang. »War Braunschweig einst als Teil der Hanse die Regionalmacht, verlor die ›Löwenstadt‹ im 17. Jahrhundert an Einfluss, während Hannovers Herrscher zu Kurfürsten wurden«, schreiben Lenner und Neuhauss. Später blieb Braunschweig als Herzogtum bzw. Freistaat ein eigenes Land, doch die Stadt an der Leine überholte den Nachbarn als Provinzhauptstadt Preußens durch die Industrialisierung und den Ausbau der Eisenbahn in ihrer Bedeutung. »Damit wurde Hannover zum zentralen Drehkreuz und Braunschweig rückte in die zweite Reihe«, wird der Privatdozent Karl Heinz Schneider vom Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover in dem Beitrag zitiert.

Nach der Befreiung vom Nazifaschismus und der Besatzung durch die Alliierten wurde das vormals eigenständige Braunschweig durch die britische Schutzmacht in das neue Bundesland Niedersachsen integriert – und zum Zonenrandgebiet der Westsektoren bzw. der Bundesrepublik. Hannover avancierte zur Landeshauptstadt, Braunschweig wurde degradiert. »Die lokale Rivalität zwischen Landeshauptstadt und zweitgrößter Stadt gibt es häufig«, bekundet Gerd Biegel, Gründungsdirektor des Instituts für Braunschweigische Regionalgeschichte an der TU Braunschweig, in dem NDR-Geschichtsabriss. Zugleich sei in Braunschweig ein besonders starkes lokales Selbstbewusstsein erwachsen. Soweit zur Landeskunde.

Und fußballhistorisch? Folgendes: Eintracht Braunschweig zählte 1963 zu den Gründungsmitgliedern der ersten Bundesliga, nicht Hannover 96. 74 Vereine aus den damaligen vier erstklassigen Oberligen Nord, West, Südwest, Süd sowie der (West-)Berliner Vertragsliga konnten sich um die 16 Startplätze der neugeschaffenen Eliteklasse bewerben. Sportliche, wirtschaftliche, aber auch infrastrukturelle Kriterien sollten laut dem Entscheidungsgremium des Deutschen Fußballbunds (DFB), der sogenannten Fünfer-Kommission, über die Lizenzerteilung für die Liga der Auftaktsaison 1963/64 entscheiden. Schließlich gingen beim DFB 46 Bewerbungen ein.

Der Proporz sah folgende regionale Aufteilung vor: Der Norden bekam drei Startplätze, der Westen und der Süden jeweils fünf, der Südwesten zwei und Westberlin einen. Aus der Oberliga Nord waren der HSV und Werder Bremen gesetzt. Um den verbliebenen dritten Platz konkurrierten die Altrivalen aus Hannover und Braunschweig, anfangs auch noch der VfL Osnabrück. Vieles sprach für 96, vor allem sportlich. Hannover war 1954 deutscher Meister geworden und hatte sich zwei Jahre später wieder für die Endrunde zur deutschen Meisterschaft qualifiziert. Mit Beginn der 1960er Jahre bauten die Klubverantwortlichen den Kader aber um, verjüngten das Team. Die Folge: schlechte Ergebnisse, schlechte Platzierung. In der Abschlusstabelle der letzten Oberligasaison 1962/63 rangierte Hannover 96 auf dem neunten Platz, der BTSV hinter Hamburg und Bremen auf dem dritten. Letztlich votierten die DFB-Kommissionäre für die Braunschweiger, rechtfertigten dies mit der besseren Platzierung. Ein Votum, das bei sportgeschichtlich geschulten 96-Fans Groll hervorruft. Bis heute.

Schurkenstück per Fernzündung

Gut, ein Sprung in die jüngste Vorgeschichte: Abermals Derbytime, Eintracht-Stadion, Sonntag mittag, 19. März 2023, Anstoß 13.30 Uhr. Das Spiel war erst wenige Minuten alt – und schon die erste Unterbrechung. Eine Rakete aus dem Gästeblock der Hannoveraner landete mitten auf dem Feld, dazu weitere Bengalos am Spielfeldrand. Der Auslöser: blauer und gelber Rauch direkt hinter dem Zaun im Gästeblock. Eine Farbkombination, die so gar nicht zum Partymotto der Supporter aus der Landeshauptstadt passte, alle kollektiv in roten Windbreakern. Irrtümlich den falschen pyronalen Kolorit eingepackt? Undenkbar. Nein, die Rauchtöpfe in feindlichen Farben wurden zuvor heimlich von Braunschweiger Ultras in der Kurve der Auswärtigen deponiert und mittels Fernschaltung gezündet. Ein Schurkenstück, ein Geniestreich für die einen; ein Stimmungskiller, ein Gesichtsverlust für die anderen.

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Bringt sich in Stellung: Der ultra-euphorische Mob der 96er kurz vor Beginn des Corteos (Hannover, 5.11.2023)

Die Revanche für die Schmach sollte folgen, wenn auch nicht sofort – und andernorts. Freitag abend, 20. Oktober 2023, Anstoß 18.30 Uhr. Die Braunschweiger Eintracht gastierte im entlegenen Saarland beim Aufsteiger SV Elversberg. In der zwölften Minute war es dann so weit, roter Rauch im Block der Anhänger aus der Löwenstadt – wiederum ferngezündet. Dazu präsentierten die 96-Fans parallel bei ihrem Heimauftritt gegen den 1. FC Magdeburg ein Banner mit sarkastischem Schriftzug: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat den größten Fernzünder im ganzen Land?«

Unbenommen, der Beef unter den Akteuren ist kreativ. Örtlich ungebunden, technisch versiert – mit Überraschungseffekten. Miesmacher würden dahinter eher eine »kriminelle Energie« vermuten, Befürworter hingegen eine »klandestine«. Aber: Nach der Retourkutsche kamen offenbar Zweifel ob der Aktionswahl auf. Kurvenrebellen aus Hannover appellierten am Derbytag im November an die aktivistischen Szenen abzurüsten: »Ultras, lasst die Fernzündungen sein!« Klar, in der Subkultur Ultra geht es darum, die Konkurrenz vorzuführen, bloßzustellen, zu demütigen. In gewisser Weise ein Wettbewerb »Schneller, höher, weiter!« Nur, wohin soll das führen? Würden bald Brandsätze gelegt, um jahrzehntealte Zaunfahnen aus großer Distanz zu flambieren? Das wäre »feige, hinterhältig«, stünde dem Ultrakodex entgegen, da der Gegner wehrlos sei. Deshalb der Appell nicht nur, aber auch an den »ungeliebten Nachbarn östlich von Peine«, innezuhalten, nicht weiter an der Spirale der Aufrüstung zu drehen. Ferngezündet wurde seitdem nicht mehr, Rabatz gab es trotzdem.

Demolierter Gästesektor

Sie sammeln sich vor dem Gästesektor, sie sind in Rage. Dann das Startsignal zum Blocksturm. Der Braunschweiger Ultra- und Hooliganmob drängt durch das Mundloch im Oberring, der Vortrupp spannt rasch ein Dutzende Meter langes Banner auf – martialisch und final der Sprech: »Kampfbereit in jeder Not – Blau-Gelb bis in den Tod«. Dazu nebeln Rauchtöpfe den oberen und unteren Rang ein, getrennt in den Vereinsfarben. Der Prolog zum Hauptakt.

Nach dem stürmischen Einzug in den Auswärtsblock folgt dessen Teildemontage, speziell der Reihen mit den Sitzschalen. Reihenweise rissen besonders Eifrige die komfortablen Möbelstücke aus der Verankerung, reichten diese kopfüber mit Händen als Kette weiter bis in die erste Reihe – um diese dann mit kräftigem Hauruck krachend auf den Betonboden zwischen Unter- und Oberrang zu schmeißen. Das ging fünf-, sechsmal so. Klosetts und Pinkelbecken mussten gleichfalls dran glauben, an einen herkömmlichen Toilettengang war nach dem Kick nicht mehr zu denken. Kurzum, heiter-forsche Eintrachtler als »Abbruchunternehmer«.

Braunschweigs Geschäftsführer Wolfram Benz fand das gar nicht lustig. »Entsetzt« sei er ob der Vorfälle gewesen, verlautbarte er in einer Stellungnahme. »Wir verurteilen in aller Schärfe den hemmungslosen Vandalismus.« Der Klubchef kündigte eine Aufarbeitung der Vorkommnisse »mit unseren Fanorganisationen wie auch mit den beteiligten Netzwerkpartnern« an. Personen, die (zweifelsfrei) seitens der Polizei als Täter identifiziert worden seien, könnten vom gastgebenden Verein mit einem bundesweiten Stadionverbot belegt werden.

Martin Kind, Benz Pendant, reagierte vor allem deshalb pampig: Ticketeinnahmen gingen flöten, wenn sicherheitsbedingt Stadionblöcke gesperrt werden müssten, so der CEO der 96-Profiabteilung. Das ist nicht alles, Sachschäden durch Gästefans etwa im Sanitärbereich müssen repariert, DFB-Strafen wegen des Pyroeinsatzes beglichen werden. Finanziell kann ein Derby ein Verlustgeschäft sein, richtig teuer werden. Künftig um so mehr, wenn Kosten für Einsatzkräfte bei Niedersachsenderbys seitens der Klubs übernommen werden müssten. Womit das Innenministerium liebäugelt. Allein beim Regionalduell Anfang November waren bis zu 2.000 Polizisten im Dienst, Kostenpunkt: locker eine Million Euro. Pfiffig wie Benz und Kind sind, lehnten sie in trautem Einssein eine Kostenübernahme bei »Hochrisikospielen« ab. Vorsorglich.

Rückfall in alte Zeiten

Schon im Vorfeld des Novemberduells hatte die Fanhilfe Hannover vor einem »Rückfall in alte Zeiten« gewarnt. Die Polizei der niedersächsischen Landeshauptstadt habe mit einem »realitätsfernen Sicherheitskonzept« eskalierend gewirkt, mit einem Konzept, bei dem die Verantwortung für einen potentiell unfriedlichen Ablauf des Derbys allein bei der Klub- und Geschäftsführung lag – auch abseits des grünen Rasens.

Es kam, wie es kommen musste. Fanaktivisten rasselten mit 96-Boss Kind aneinander. Wieder einmal. Ergebnis: Dialogabbruch und Absage der Derbychoreo zwei Tage vor dem Match, »schweren Herzens«, erklärte die »Ultraszene Hannover«. Monatelang hätten sie sich »die Knie in kalten Hallen kaputt gepinselt«. Kohle locker gemacht, nicht zu knapp, im Gegenwert eines Kleinwagens oder Karibikurlaubs. Für nix. Die Schikane: Kind und Co. wollten für den Choreoaufbau im Stadion nur wenige Ultras zulassen; zu wenige, um die aufwendige Darbietung vorzubereiten. Angeblich mangelte es an Aufpassern, sprich Ordnerpersonal.

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Haben ihren Job verfehlt: Braunschweiger Kurvenrebellen betätigen sich als Abbruchunternehmer auf fremdem Terrain (Hannover, 5.11.2023)

Damit nicht genug. Am Spieltag hätten sich Polizeikräfte provokant im Marsch der Heimfans postiert, eine »überholte Einsatztaktik«, meinte die Fanhilfe in einer neuen Mitteilung. Und nur dem besonnenen Verhalten der Anhänger sei es zu verdanken gewesen, dass es während des verzögerten und begrenzten Einlasses am Nordvorplatz vor der »roten Kurve« zur keiner Massenpanik unter den Tausenden Wartenden gekommen sei. Die Situation spitzte sich indes weiter zu, als Einsatzkräfte im Verlauf der ersten Halbzeit in die vollbesetzten Blöcke der Ultras eindrangen. Zahlreiche Zuschauerinnen und Zuschauer wurden durch das wahl- und ziellose Versprühen von Reizgas verletzt. Keine Spur von Schutzräumen und Deeskalation, wie vor dem Derby seitens der Behörden kommuniziert, resümierten die Fanhelfer.

Die Kritik richtete sich zudem an die Landesinnenministerin Daniela Behrens. Inhaltsleer, populistisch, nichts als Worthülsen habe die Sozialdemokratin am Tag nach dem Regionalduell in den Medien abgesondert – und damit das Feindbild Fußballfan bekräftigt.

Ministeriumspakt mit Klubs

Das gleiche auch rund einen Monat später. Behrens wirkt übermüdet, ihr Kurzhaar ist leicht verwirbelt. Dennoch, Amt ist Amt, die Innenressortchefin tritt vormittags am Nikolaustag vor die Presse. Rechts neben ihr tippelt 96-Vortänzer Kind ungeduldig von einem Fußballen auf den anderen, zupft dabei mit Daumen und Zeigefingern an den Unterarmen seines verwaschenen beigefarbenen Pullovers. Links von der Ministerin steht Nicole Kumpis. Die Eintracht-Präsidentin hat ihre Hände vor ihrem Schoß übereinandergelegt, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Behrens presst die Lippen spitz zusammen, blickt durch ihre Brillengläser über das Mikroquintett in die TV-Kameras – und spricht, will dabei sach- und fachkundig wirken. Es sei ein Meilenstein, »dass wir gemeinsam, das Innenministerium, die Polizei und die Vereine, sehr konkret an den Problemen arbeiten, die wir haben«, meinte die SPD-Politikerin. Eigens dafür werde eine Projektgruppe bisherige Vorfälle von »Fangewalt« in niedersächsischen Arenen, vor allem in Hannover und Braunschweig, aufarbeiten. Ferner Strategien entwickeln, wie dies künftig besser verhindert werden könne. Die Kernfrage sei, ob Stadien weiterhin ein »rechtsfreier Raum« sein dürften, jedenfalls zeitweise an Spieltagen. Und nicht zuletzt sei es nicht Job der Polizei, gewissermaßen als privater Sicherheitsdienst zweckentfremdet zu werden, bemerkt Behrens larmoyant. Fußballspiele müssten idealerweise ohne Polizeikräfte stattfinden. Ein gewaltfreies Stadionerlebnis, darum gehe es. D’accord, würde das Gros der Fans sagen.

Nur, wie ist das erreichbar? An dieser Stelle dürfte es unversöhnlich werden. Mittels zusätzlicher Baumaßnahmen in den Wettkampfstätten, meint die Ministerin. Welchen? Mehr Kameras mit mehr hochauflösender Qualität, keine Nischen mehr im weiten Rund ohne das wache Auge einer scharfen Linse. Zudem intensivere Kontrollen am Einlass durch geschulte Ordner. Letzteres, damit »so gut wie keine Pyrotechnik« in die Fanblöcke gelange, »auch wenn das ein sehr naives Versprechen ist«, ahnt Behrens. Sie sollte recht behalten …

Kind und Kumpis sekundieren. Das Thema Gewalt im Stadion begleite Hannover 96 schon seit Jahren, so der Hörgeräteproduzent. »Wenn man ehrlich ist, haben wir bisher wenig erreicht.« Daher sei die gemeinsame Initiative »mehr als zu begrüßen«. In dem kommenden Prozess sei es wichtig, auch die Fans vom Ziel der Befriedung der Arenen zu überzeugen. Gleichfalls nichtssagend Kumpis. Die Präsidentin des BTSV bemerkte, es sei ihr ein »großes Anliegen«, jeden Fan mitzunehmen und transparent zu kommunizieren. Das Treffen mit der Ministerin und Kind sei da ein »sehr konstruktiver Auftakt« gewesen. Ähnlich bewerten das Medienmacher, beispielsweise im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Medienphänomen Ultra

Der Moderator des NDR-Regionalmagazins »Hallo Niedersachsen« schaut verkniffen auf seine engbedruckte Karte mit Merksätzen, schiebt sie mit den Fingerspitzen seiner linken Hand etwas Richtung Tischkante, gestikuliert, kreist dabei sein rechtes Handgelenk, um umständlich zur Auftaktfrage zu kommen. Die klingt altbekannt: Brauche es mehr Abschreckung gegen das Grundübel, die Fangewalt? Der, der die Allerweltsfrage am Nikolausabend beantworten soll, heißt Kevin Komolka. Nein, mehr Abschreckung würde keine Lösung bedeuten, meint der niedersächsische Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) leger. Das Strafgesetzbuch gebe bei »fantypischen Vergehen« wie gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch genug Spielraum, um hart zu bestrafen, weiß der polizeiliche Berufsvertreter.

Apropos GdP. Es gehört zum modischen Derbyschick, Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten mit eigens fabrizierten Abzeichen eines kommerziellen Herstellers für den (verdienstvollen) Einsatz an der Stadionfront auszuzeichnen. Ein Patch für den Kampfanzug zur Stärkung des Korpsgeistes. Das Problem: Die GdPler verwendeten für ihren Merch die Vereinsembleme von 96 und dem BTSV. Wohl ein Verstoß gegen das Markenrecht. Kurzerhand verschwand das Accessoire von der Homepage des Anbieters. Aber auch sonst geriert sich zuweilen die im Vergleich zur Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) »gemäßigte« GdP als Scharfmacherin. Etwa der GdP-Bundesvorsitzende Jochen Kopelke. Unmittelbar vor der turnusmäßigen Herbsttagung der Mitglieder der IMK vom 6. bis 8. Dezember in Berlin ließ er via Redaktionsnetzwerk Deutschland verlauten: »Aktuell erleben wir in Stadien eine geplante und abgesprochene Hasskampagne gegen uns Polizisten.« Die Gewalttäter betrieben eine Täter-Opfer-Umkehr, obwohl Ultragruppen Hass, Hetze und Gewalt in die Stadien bringen würden; jedenfalls einige von ihnen. Nicht von ungefähr forderte Kopelke, »Fangewalt« bei einem Extratagesordnungspunkt zu beraten »und ein gemeinsames Vorgehen gegen aggressive und gewalttätige Ultragruppierungen festzulegen«. Er wurde erhört.

Politikum »Fangewalt«

Auf der Innenministerkonferenz im Dezember landete »das Phänomen Fangewalt« tatsächlich auf der Tagesordnung. Ausgelöst durch den »fankriminellen Radau« in Hannover einen Monat zuvor und gepusht durch Behrens.

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Falsche Farbenlehre: Roter Rauch per Fernzündung im blau-gelben Auswärtsblock der Braunschweiger (Elversberg, 20.10.2023)

Die IMK existiert seit 1954. Die deutsche Innenpolitik obliegt nach dem Föderalismus primär den 16 Bundesländern. Das Bundesinnenministerium ist ständiger Gast der IMK und stimmt sich mit den Ländern hinsichtlich des Vorgehens ab; kurz- und langfristig, um potentielle Krisenlagen einzuschätzen und abzuwenden. Der fachliche Austausch findet in sechs ständigen Arbeitskreisen statt, unter anderem zu Innerer Sicherheit. Dazu zählen Gefahrenabwehr, Bekämpfung des Terrorismus und Angelegenheiten der Polizei. Und ja, hierunter fällt gleichfalls »Fangewalt«.

Auf der sogenannten TOP-Liste der Herbsttagung, der insgesamt 220. Sitzung in der IMK-Historie standen 85 Sicherheitsthemen. Das 85. lautet dann auch »Gewalt in Fußballstadien«. Sieben Beschlüsse fassten die Amtsträger – und holten dabei melodramatisch aus. Besorgt seien sie ob der Situation in den Arenen, »gewalttätige Ausschreitungen in Fußballstadien (haben) ein erschreckendes Ausmaß erreicht«. Das werde selbstredend verurteilt, zumal Leib und Leben durch Gewalttäter gefährdet würden.

Deshalb forderte die IMK den DFB, die Deutsche Fußballliga (DFL) und Vereine auf, »alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die zunehmende Gewalt und den Einsatz von Pyrotechnik zu unterbinden«. Besonders die Vielzahl teils schwer verletzter polizeilicher Einsatzkräfte sei völlig inakzeptabel. Stadien seien keine rechtsfreien Räume, optionale Sanktionen wie Stadionverbote und Fanausschlüsse müssten also konsequent umgesetzt werden. »Der deutsche Fußball ist hier zu einer eindeutigen und klaren Haltung aufgefordert«, steht im Beschluss von TOP 85. Und die fehlt angeblich. Die IMK nehme irritiert zur Kenntnis, »dass der DFB jüngsten Äußerungen zufolge, gewaltbereite Teile der Fanszene und die Polizeien von Bund und Ländern offenbar als gleichrangige Parteien gewalttätiger Konflikte betrachtet, die zu einer Lösung des Konfliktes im Dialog aufgerufen seien«.

Irritiert sind aber auch Fanvertreter. Oliver Wiebe vom Dachverband Fanhilfen resümierte im Tagesspiegel anlässlich der Herbst-IMK: Die Innenministerkonferenz sei für Fußballfans »eine total skurrile Veranstaltung«. Die Eskalation werde dort nur einseitig und undifferenziert betrachtet. »Fans sind demnach allesamt potentielle Gewalttäter und das einzige Problem im Stadion.«

Ministerin sucht Krawall

Eine Position, für die die niedersächsische Innenministerin exemplarisch zu stehen scheint. Denn Behrens zündelt emsig weiter. Bleiben Stehplatzränge bei »Hochrisikospielen« bald leer? Sie denkt laut darüber nach. »Derzeit lasse ich alle rechtlichen Möglichkeiten im Hause prüfen, welche Anordnungen möglich sind«, sagte sie der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) bereits vor dem Derbyrückspiel am 14. April. Dazu gehöre auch, »im Rahmen der Sicherheitskonzepte keine Stehplätze zuzulassen oder die beiden Kurven freizuhalten«. Kicks ohne aktive Blockgänger, für Behrens die »Ultima Ratio«.

Die Nullnummer auf dem Rasen konnte sie nicht beschwichtigen; zumal beide Fanszenen der ministeriellen Stadionbesucherin dokumentierten: Das Stadionerlebnis beim Niedersachsenderby bleibt eines – ein pyronales Spektakel. Entsprechend verstockt kündigte Behrens erneut ein Treffen mit den Klubbossen an. »Die Fantrennung hat gut funktioniert. Aber was wieder nicht gut funktioniert hat, ist der Pyroeinsatz. Wir haben massiven Pyrobeschuss aus der Fankurve. Das ist nicht gut«, so Behrens repetitiv. Sie erwarte seitens der Vereine, die Sicherheit in den Arenen zu erhöhen. »Da sind erste Schritte gemacht worden, aber mir reicht es noch nicht aus.«

Sie will also mehr. Es klingt dabei wie eine (verkappte) Kampfansage. Fraglos in Richtung aktive Fanszenen. Staatsmacht versus Ultramacht. Bemerkenswert, die »Kurvenrebellen«, die größte dissidente Bewegung hierzulande, haben Reserven für zweierlei; Clinch mit Vereinsrivalen und Clinch mit Amtsträgern. Mal zeitlich versetzt, mal zeitgleich.

Ohnedies: »Abstrakte Hardlinerphantasien« von Vertretern aus dem Behördenapparat seien wirkungslos, seien zwecklos, erklärte die »Ultraszene Hannover« schon direkt vor dem Novemberderby breitschultrig. Denn die aktivistischen Supporter hätten in der Vergangenheit bewiesen, alles ins Stadion zu bekommen, wonach ihnen war – »mehrfach und eindrucksvoll«. Bei elektrisierenden informellen Stadt- oder Regionalmeisterschaften eh.

Oliver Rast ist jW-Redakteur im Ressort Wirtschaft, Arbeit, Soziales und Sportreporter.

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