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Aus: Ausgabe vom 18.04.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Energieversorgung

Niederlande gehen vom Gas

Förderung in Groningen wegen Erdbebengefahr eingestellt. Ersatzgas unter anderem aus Russland
Von Gerrit Hoekman
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»Beton rein und Deckel drauf«: Gasförderanlage in Amsweer bei Groningen

Nach mehr als sechs Jahrzehnten Erdgasförderung in der niederländischen Provinz Groningen wird der Gashahn definitiv zugedreht. Die Eerste Kamer, die eine mit dem Deutschen Bundesrat vergleichbare Funktion hat, stimmte am Dienstag abend einem Gesetz zu, das vom Parlament bereits im vergangenen Monat verabschiedet worden war. Für das Eerste-Kamer-Mitglied der Sozialistischen Partei, Bastiaan van Apeldoorn, ein »historischer« Moment. »Beton rein und Deckel drauf«, kommentierte er gegenüber der öffentlich-rechtlichen NOS.

Nur sechs der 75 Senatoren votierten gegen das Gesetz. Sie gehören drei kleineren Parteien an. Die Gegner finden das Ende der Förderung im Groningenveld zu riskant, weil die Energiesicherheit der Niederlande gefährdet sei. Ohne das Groningenveld sind die Niederlande zu etwa 75 Prozent von Gas aus dem Ausland abhängig. Es kommt entweder über eine Pipeline aus Norwegen oder wird als LNG mit dem Schiff unter anderem aus den USA, Großbritannien, Katar und laut NOS auch aus Russland geliefert. Das niederländische Parlament will außerdem die Förderung von Gas in der Nordsee forcieren. Ein Projekt, das wiederum auf den niederländischen Inseln im Wattenmeer auf Widerstand stößt.

Die Mehrheit der Eerste Kamer wollte am Dienstag abend das Vertrauen der Bevölkerung in der Provinz Groningen nicht erschüttern, die schon so lange unter den Folgen der Gasförderung leidet. Der verantwortliche, kommissarische linksliberale Staatssekretär Johannes Vijlbrief zeigte sich zufrieden. Hätte der Senat das Gesetz abgelehnt, wäre er zurückgetreten, sagte er dem Regionalsender RTV Noord. Der Erfolg sei aber nicht in erster Linie ihm, sondern vor allem den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern zu verdanken, die seit Jahrzehnten gegen die Förderung gekämpft hätten, so Vijlbrief.

In Groningen und dem Umland macht sich Erleichterung breit. »Wir können wieder vorausdenken, anstatt uns nur auf das Elend zu konzentrieren«, freute sich Coert Fossen von der Groninger Bodenbewegung (GBB) am Mittwoch bei RTV Noord. Er rief alle Bürgerinnen und Bürger auf, die Fahne der Provinz zu hissen. »Ein großartiger Moment, um Flagge zu zeigen, im positiven Sinne. Machen wir daraus eine kleine Party. Damit ganz Groningen und die gesamten Niederlande sehen können: Hier passiert etwas Historisches.«

Peter Rozema, der Vorsitzende des Groninger Gasberaad mahnte am Dienstag bei NOS, es müsse aber noch einiges für die Menschen getan werden. Viele Bürgerinnen und Bürger warteten zum Beispiel immer noch auf eine Wiedergutmachung für die Schäden, die durch die vielen Erdstöße an ihren Häusern entstanden sind. Rund 1.600 kleine und mittelschwere Erdstöße wurden bis heute gezählt, der stärkste hatte 2012 eine Magnitude von 3,6. Hunderttausende Hausbesitzer meldeten seit den 1960ern Schäden. Die Beseitigung kostete den Staat insgesamt bereits zwei Milliarden Euro. Das Ende der Förderung bedeutet nicht, dass die Beben sofort aufhören. Zuletzt wackelten am Sonntag in der Region die Wände. Die Menschen werden noch eine ganze Zeitlang damit leben müssen. Ohnehin kaum mit Geld aufzuwiegen sind die psychischen Folgen, mit denen die Bewohnerinnen und Bewohner zu kämpfen haben.

Für die Region war die Entdeckung des Groningenveld im Jahr 1959 mehr Fluch als Segen; für die Niederlande und natürlich auch für die Betreiber Shell und Esso (Exxon Mobil) war es ein Glücksfall: 370 Milliarden Euro wurden mit dem Gasfeld erwirtschaftet. Am kommenden Freitag wird das Gesetz symbolisch unterzeichnet – auf einer Wiese zwischen den Gemeinden Hoogezand und Slochteren, exakt an der Stelle, wo vor 65 Jahren zum ersten Mal Gas gefunden wurde. RTV Noord wird die Zeremonie live übertragen. Sobald der König seine Unterschrift darunter gesetzt hat, kann es am 1. Mai offiziell in Kraft treten. Danach werden die letzten Förderanlagen abgebaut und die Bohrlöcher mit Zement verschlossen. Sollte sich die Politik später doch wieder dazu entscheiden, in Groningen Gas zu gewinnen, müssten ein neues Gesetz verabschiedet und neue Genehmigungen erteilt werden.

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