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Aus: Ausgabe vom 17.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Kolumbien

»Die Rechte hat immer noch die Macht«

Kolumbien: Herrschende Oligarchie nur vorübergehend geschwächt. Ein Gespräch mit Darién Giraldo H.
Von Interview: Julieta Daza, Caracas
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Protest gegen die Ermordung sozialer Aktivisten in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá (20.2.2024)

Wie beurteilen Sie die humanitäre Lage in Kolumbien nach anderthalb Jahren Linksregierung unter Gustavo Petro?

Die 93 Massaker im vergangenen und 15 im laufenden Jahr, in dem bereits 41 soziale Aktivisten ermordet wurden; die Fortsetzung der Enteignungen und Zwangsräumungen sowie die Verschärfung der sozioökonomischen Krise – das alles zeigt, dass das alte Regime intakt bleibt, obwohl die Bevölkerung progressive Kräfte an die Regierung gebracht hat. Die Rechte hat für die Mehrheit der Kolumbianer an Legitimität verloren. Die wirtschaftliche und militärische Macht hat sie aber immer noch. Nun versucht sie, den Einfluss der sozialen Organisationen auf die Staatsführung zu untergraben und die Kontrolle wiederzuerlangen.

Zu diesem Zweck versucht das Narco-Regime, die sozialen Organisationen zu schwächen, indem es sie stigmatisiert und Massaker und Ermordungen fortführt. Gleichzeitig wird die Destabilisierung der linken Regierung vorangetrieben. Drohungen mit einem Staatsstreich sind eine reale Gefahr und ein Mittel, Druck auszuüben, damit sie einige Reformen stoppt. Gegenwärtig findet eine schrittweise paramilitärische Übernahme auf dem Land statt, die vom staatlichen Sicherheitsapparat unterstützt wird.

Der Progressismus ist also gefesselt. Einerseits soll er Aufständen vorbeugen, indem er verspricht, dringende Reformen mit friedlichen Mitteln zu erreichen. Andererseits braucht er dafür den Rückhalt der Bevölkerung. Das führt zu einem ständigen Aufruf zur Mobilisierung. Somit werden die Menschen jedoch nicht als Macht, sondern eher als Druckmittel gesehen. Die Oligarchie wird weder eine Agrarreform noch eine Umverteilung oder eine Regulierung der Märkte zulassen, wie sie im Programm von Petro vorgesehen sind.

Wie lässt sich das Fortdauern der Gewalt erklären?

Der Wahlsieg Petros war ein historisches Ereignis. Er führte zur Rücknahme der antisozialen Reformen des ehemaligen Präsidenten Iván Duque. Mit Petros Regierung hat die Bevölkerung dem Establishment eine weitere, vielleicht die letzte Gelegenheit gegeben, ihre Forderungen mit institutionellen Mitteln zu begegnen. Aber Petros Sieg bedeutete nicht das Ende der direkten Auseinandersetzung zwischen der sozialen Bewegung und der kolumbianischen Oligarchie. Der Konflikt zwischen beiden gegensätzlichen Kräften pausiert im Moment, aber mit Blick auf eine künftige Konfrontation, die allem Anschein nach unvermeidlich ist, sammeln beide Seiten Kräfte. Das kolumbianische Regime ist seit jeher ein gewalttätiger Aufstandsbekämpfungsapparat, der sich an der Sicherheitsdoktrin der USA orientiert und darauf abzielt, jede Demokratisierung zu verhindern.

Wie hat sich die Lage ehemaliger FARC-Kämpfer seit dem Amtsantritt Petros geändert?

Sieben Jahre nach Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen dem kolumbianischen Staat und der FARC-EP sind 396 frühere Guerillakämpfer und 1.200 soziale Aktivisten ermordet worden. Dieses Szenario war bereits vor Beginn der Friedensgespräche mit der Ermordung des FARC-EP-Comandante Alfonso Cano auf Befehl des damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos absehbar. Dann kam die Nichteinhaltung der Vereinbarungen von Havanna durch den Staat. Auch die Verwicklung staatlicher und paramilitärischer Kräfte in die Ermordung von FARC-Friedensunterzeichnern wurde immer deutlicher. Die ehemaligen FARC-Kämpfer überleben heute mit einem etwas unter dem Mindestlohn liegenden Einkommen. Sie leiten soziale Projekte in den Gemeinden und sind oft mit Repressionen konfrontiert. Andere haben sich neuen bewaffneten Gruppen angeschlossen.

Darién Giraldo H. ist Soziologe und arbeitet im Territorialen Raum für
Ausbildung und Wiedereingliederung (ETCR) von Pondores, einer der im Friedensabkommen von Havanna festgelegten Gemeinden für die Integration früherer FARC-Kämpfer in die Gesellschaft

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