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Aus: Ausgabe vom 16.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Theater

»Wie soll ich dir das erzählen?«

»Unser Deutschlandmärchen« als Glitzermusical am Berliner Gorki-Theater
Von Sabine Lueken
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Und der Sohn will dichten: Fatma (Sesede Terziyan) schuftet für eine bessere Zukunft

Ja, das war ein schöner Theaterabend! Ergreifend, wunderbar gespielt, mit toller Musik. Zwar auch herzzerreißend traurig, aber nicht ohne Humor und mit Happyend. Die Mutter ist nicht tot, wie der Prolog suggeriert. Sie lebt und kommt am Schluss leibhaftig auf die Bühne und winkt uns zu. Der Sohn hat seine Stimme gefunden, und sie ist einverstanden.

Der Sohn ist Dinçer Güçyeter, gelernter Werkzeugmacher, Dichter, Verleger, Schauspieler und Gabelstaplerfahrer, »Gastarbeiterkind« aus Nettetal am Niederrhein. Für seinen autofiktionalen Roman »Unser Deutschlandmärchen« bekam er 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse. Nicht lange nach Gün Tanks »Optimistinnen« kommt damit ein weiteres Stück vernachlässigter bundesdeutscher Geschichte auf die Bühne des Berliner Gorki-Theaters. Diesmal nicht als kleines Singspiel, sondern als großes Musical.

Regisseur Hakan Savaş Mican, der den Roman adaptiert hat, konzentriert sich auf die Mutter-Sohn-Beziehung dieser »Coming of Age«-Geschichte. Mehr als die Spielszenen transportieren die Songs die Emotionen: Schmerz, Vergeblichkeit und unerfüllte Sehnsüchte bei der Mutter und wütender Protest beim Sohn, mitreißend dargeboten von den beiden Schauspielern und der fünfköpfigen Band. Die begleitet die Lieder und Songs aus zwei Welten mit Akkordeon, Cello, Schlagzeug, Keyboard und E-Bass und auch mit Elektro-Saz, Kabak Kemane, Duduk, Dabuka und Oud.

Prolog: Taner Şahintürk als Dinçer steht verlegen-unbeholfen im Neck­holder-Abendkleid der Mutter auf karger Bühne an deren Zinksarg. Jetzt, wo sie tot ist, will er ihr endlich alles sagen. Er druckst rum, zerknüllt den vorbereiteten Zettel. Dann beginnt die Erzählung. In einer Szene, die die ersten Lacher provoziert, kniet Sesede Terziyan als Mutter Fatma auf einem Gebetsteppich und ruft die christliche Gottesmutter Maria an. Sie wünscht sich ein Kind, mehr als alles andere, seit 14 Jahren schon. 1979 ist es soweit. Kleine Wackelporträts des Babys Dinçer, projiziert auf das Portal der Guckkastenbühne, rieseln wie Sterne herunter.

Fatma arbeitet hart, zehn Stunden in der Fabrik, dazu als Erntehelferin und in der Kneipe ihres Ehemanns. Yılmaz ist ein Faulpelz, der das schwer verdiente Geld zum Fenster rauswirft und sich zudem mit einer Manuela vergnügt. Mit acht kauft Dinçer der Mutter vom ersten selbstverdienten Geld pinkfarbene Stöckelschuh: »Wenn du auf diesen Schuhen in Bewegung warst, wusste ich, die Uhr würde stehenbleiben … Wie soll ich dir das jetzt erzählen, dass dieses wunderbare Geräusch mir das Tor zu anderen Welten öffnete.« Später gesteht er ihr, dass er die Pumps, wenn sie nicht da war, heimlich selber anzog.

Als er ihr eröffnet, dass er zum Theater will, ist sie entsetzt. »Du bist ein Arbeiterkind in Deutschland! Als ob es nicht schlimm genug wäre, dass du die ganze Zeit liest und schreibst. Ich werde es nicht zulassen, dass du dein Leben wegwirfst.« Im Blaumann drischt Dinçer zum Heavy-Metal-Song »Mother« auf einen Amboss ein, aber er kann den Wunsch der Mutter, als tüchtiger Arbeiter seinen Mann zu stehen, nicht erfüllen: »I want more.«

Regisseur Mican möchte den bitteren Seiten des »Gastarbeiterinnen«-Lebens nicht zuviel Raum geben. In einer grandiosen Gesangsnummer erhebt sich Fatma über ihre Geschichte und die der Mutter und der Großmutter, die eine Abfolge von Entbehrung, Entwurzelung, Gewalt und Demütigung ist. Sesede Terziyan erzählt, nebenbei, zwischendurch, leise davon, während sie den Tango der türkischen Sängerin Sezen Aksu singt: »O Sensin«: Du bist es.

Nächste Termine: 22. 4. und 2. 5.

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