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Aus: Ausgabe vom 15.04.2024, Seite 12 / Thema
Literaturgeschichte

»Ein Lustspiel … Es wird euch ergözzen«

Vor 250 Jahren erschien der »Hofmeister« von Jakob Michael Reinhold Lenz. Es ist zugleich ein Initialstück der modernen deutschsprachigen Literatur und des Theaters
Von Arnd Beise
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»Ein rechtes Muster des Mitleidens« – »Hofmeister«-Inszenierung am Maxim-Gorki-Theater (Berlin, 11.6.2013)

»Gebt auf ein Lustspiel acht, das die Ostermesse herauskommen wird«, schrieb am 6. März 1774 der Shootingstar der damaligen Literaturszene, Johann Wolfgang Goethe, an seine Bekannten: »›der Hofmeister oder die Vortheile der Privaterziehung‹. (…) Es wird euch ergözzen.«

Goethe hatte das Manuskript des Dramas im Herbst 1773 von seinem väterlichen Freund Johann Daniel Salzmann erhalten und an seinen Verleger Johann Friedrich ­Weygand in Leipzig weitergeleitet, der das Stück umgehend drucken ließ und auf der am Sonntag, den 24. April 1774, eröffneten Buchmesse der Öffentlichkeit vorstellte.

Verfasser des anonym publizierten Stücks war Jakob Michael Reinhold Lenz, gebürtig aus Seßwegen (heute: Casvaine) im damaligen Livland, einem Territorium, das etwa das heutige Estland und Lettland umfasste. 1771 hatten sich die beiden Studenten Goethe und Lenz in Strasbourg kennengelernt und angefreundet. Goethe hatte ein Stück über Gottfried von Berlichingen unter der Feder, das ihn 1773 mit einem Schlag berühmt machen würde, und Lenz brachte den Entwurf zum »Hofmeister« aus Livland mit. Beide Stücke zusammen bilden den dramatischen Auftakt für das, was man in der Literaturgeschichte als »Sturm und Drang« rubriziert hat.

Preußische Karikatur

Lenz verarbeitete im »Hofmeister« Erlebnisse seiner Studentenzeit in Königsberg und Erfahrungen als Hauslehrer. Fast »alle Charaktere in diesem vaterländischen Stück« seien, so der später als Komponist zu Ruhm gelangte Kommilitone Johann Friedrich ­Reichardt im Rückblick 1796, »curländische und preußische Charaktere in Caricatur«, so wie sie Lenz während seiner Jugend und Studienzeit begegnet seien. In der 1772 angefertigten Handschrift der ersten Fassung des Stücks tragen die Charaktere zum Teil sogar noch die wirklichen Namen ihrer Vorbilder. Ein halbes Jahr hatte Lenz in Königsberg selbst als »Hofmeister«, das heißt als Hauslehrer, gearbeitet, bevor er um seiner »Freyheit« willen, diesen Dienst quittierte. Auch die Verführungsgeschichte zwischen dem Hofmeister und seiner Schülerin soll nach dem Zeugnis eines Zeitgenossen auf einem »traurigen Vorfall in einer der angesehensten Familien Lieflands« beruhen.

In dem Drama wird Herrmann Läuffer bei einem etwas grobschlächtigen Major als Hauslehrer angestellt; er soll den Sohn Leopold »in allen Wissenschaften und Artigkeiten und Weltmanieren« unterrichten und Auguste, die Tochter, »zeichnen lehren«. Gustchen, wie die kaum 14jährige genannt wird, ist ein »romantisches Mädchen« mit einer »verdorbnen Einbildungskraft«, wie es Christoph Martin Wieland (1733–1813) einmal formulierte. »Sie liegt Tag und Nacht über den Büchern und über den Trauerspielen da«, besonders für Shakespeares »Romeo und Julia« schwärmt sie. Ihrem Vetter Fritz wollte sie eine Juliette sein, sie sollte ihn Romeo nennen. Wenn er nach drei Jahren von der Universität zurückkomme, wollten sie heiraten. Unterdessen hat sich Läuffer in seine faule Schülerin verliebt. »Wie stehts mit meinem Porträt? Nicht wahr, sie haben nicht dran gedacht?« – »Ich habe wahrhaftig noch nicht Zeit gehabt.« – »Grausame!« – »Aber was fehlt Jhnen denn? (…) Die Augen stehn Jhnen ja immer voll Wasser: ich habe gemerkt, Sie essen nichts.« – »Haben Sie? In der That? Sie sind ein rechtes Muster des Mitleidens.«

Tatsächlich »dauert er« sie. Und da Fritz sie während seines Studiums in Halle vergessen zu haben scheint, spielt sie nun mit Läuffer Romeo und Julia – und wird schwanger. Er verlässt fluchtartig das Haus und kriecht bei dem Dorfschullehrer Wenzeslaus als Aushilfe unter.

Auch Gustchen verlässt das Elternhaus, als die Zeit der Niederkunft naht und gebiert, aufgenommen von einer blinden Alten namens Marthe, in deren »Bettlerhütte im Walde« ihr Baby. Zwei Tage später stürzt sie sich in einen Teich, um sich zu ertränken (wird aber von dem gerade noch rechtzeitig auftauchenden Vater und seinem Bruder, dem Geheimen Rat von Berg, gerettet).

Als Marthe nach dem vermeintlichen Tod Gustchens mit dem verlassenen Baby auf dem Arm an der Tür von Wenzeslaus bettelt, sieht Läuffer erstmals sein Kind und erkennt den anscheinend tragischen Zusammenhang der Dinge; aus Reue »kastriert« er sich und wird von dem Dorfschullehrer als zweiter Origines – ein antiker Kirchenvater, der sich aus asketischem Eifer selbst entmannte – gefeiert, während er an sich die Strafe des Abälard – dieser war von den Verwandten einer geschwängerten Schülerin entmannt worden – vollziehen wollte. Doch schon bald »gereut« ihn die Tat. Daher ist er froh, dass ein Mädchen aus dem Konfirmationsunterricht ihn »heyrathen« will, auch wenn er nicht bei ihr »schlafen« könne; Lise aber meint, er könne ja bei ihr »wachen«, und »Hände küssen« reiche auch. »Sehn Sie, Herr Wenzeslaus! Sie verlangt nur Liebe von mir. Und ist’s denn nothwendig zum Glück der Ehe, daß man thierische Triebe stillt?«

Auch für Gustchen gibt es ein Happyend. Ihr Cousin Fritz, der für die Schulden seines Freunds Pätus im Schuldturm einsitzt, kann sich befreien, erfährt brieflich vom Schicksal seiner Kusine, gibt sich die Schuld für ihre Untreue: »Die drey Jahre sind verflossen, ich bin nicht gekommen (…), mein Vater hat keine Nachricht von mir gehabt (…), sie hat es erfahren, Gram – Du kennst ihren Hang zur Melancholey – die Strenge ihrer Mutter obenein, Einsamkeit, auf dem Lande, betrogne Liebe – (…) ich bin schuld.« Er eilt mit Pätus, der zufällig in der »Lotterie« gewonnen hat und alle seine Schulden und die seines Vaters so wie die Reise bezahlen kann, nach Hause, anerkennt Augustes Kind als »auch« seines und wird sie ehelichen.

Sogar der »lüderliche« Freund Pätus ist »rechtschaffen« geworden und wird heiraten, nämlich das Kathrinchen Rehhaar, deren »Ehr‹« er unlängst in ihrer Schlafkammer ruinierte.

Und zuletzt stellt die blinde Marthe sich als verschollen geglaubte Großmutter des jungen Pätus heraus, an der dessen Vater, ihr Sohn, sich einstmals durch »Haß und Undankbarkeit« schuldig machte.

Gespaltene Reaktionen

Alle Familienverhältnisse sind am Ende wieder restauriert, alle »Mißverständnisse« geklärt. Die »Verzweiflung« als Frucht der aus »Leidenschaft« begangenen »Thorheiten« verwandelt sich gattungsgemäß in Glückseligkeit. Dabei hatte die dramatische Konstellation alle Anlagen für ein Trauerspiel. Doch um »der Kunst willen, das heißt, um ein Stück, das einmal nicht Trauerspiel seyn sollte, nicht tragisch zu enden, ist die Entwicklung unnatürlich übereilt worden. Aussöhnungen, Verzeihungen, Wiedervereinigungen, Lotterien, Heyrathen folgen Schlag auf Schlag, so viele Schwierigkeiten allen diesem entgegenstanden. Am unnatürlichsten und übereiltesten ist des Hofmeisters Schicksal«, meinte Wieland in seiner Rezension vom September 1774 im Teutschen Merkur. Trotz der meisterhaften Charakteristik der Figuren »vermißt man zuweilen bey der Natur die Kunst, und bey der Kunst die Natur«.

Gottlob Benedikt von Schirach tadelte in seiner Rezension denn auch, dass »die unverletzlichen Gesetze der Wahrscheinlichkeit beleidigt werden« (Magazin der deutschen Critik III.2, 1774); ein anderer Rezensent merkte an, dass der Verfasser sich offensichtlich »mit Bedacht über alle dramatischen Regeln wegsetzen zu wollen scheint« (Gelehrte Zeitung, Kiel, 23. April 1774); ein dritter Rezensent hält dies (zu Recht) für zeittypisch: »Es ist jetzo die Zeit, da alles desto mehr bewundert wird, je ausschweifender es ist, und je näher es, möchten wir fast sagen, an die Raserey grenzt. Wir würden nicht fertig werden, wenn wir einmal den Anfang machten, alles tolle Zeug aus dieser Komödie zu bemerken. Das ist noch das wenigste, daß die Handlung viele Jahre währt, und wir bald in Preußen, bald in Sachsen sind. Es kommen so viel andere Dinge vor, die nicht nur im höchsten Grade unwahrscheinlich, sondern auch so ungereimt und wider die Natur sind, daß wir erstaunend still schweigen, nicht aus Bewunderung, wie unsere heutigen bewundernden ­Recensenten, sondern aus Verwunderung über den Geschmack und die Denkungsart unserer heutigen Zeit.« (Kritische Sammlungen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit I.4, 1774)

Tatsächlich gab es zahlreiche lobende Rezensionen, in denen auf die traditionellen Kunstregeln gepfiffen wird. »Die Charaktere sind sehr gut gezeichnet, und doch nicht lauter Alltagsgesichter; es kommen viele drollichte, und naive Scenen vor, und der Dialog ist meistens unverbesserlich. Kurz, wer das Stück liest, dem wird es gewiß Vergnügen machen« (Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 25. August 1774).

Christian Friedrich Daniel Schubart hielt das Stück gar für eine patriotische Tat: »Da schau und lies! Das ist ’mal ein Werk voll deutscher Krafft und Natur. So must dialogiren, die Situationen anlegen, die Charaktere bearbeiten, wenn du ein ächter Deutscher seyn – wenn du auf die Nachwelt kommen willst.« (Beylage zur Deutschen Chronik, August 1774)

»Dank sey dem Manne, der Muth hat, zu zerbrechen, was Geist und Herz bindet, und uns dafür giebt, was so selten ist – Menschen und wahres Gefühl! (…) Wie herrlich, wenn ein Mann so in die mannigfaltige Natur greift, sie uns so darstellt, daß wir ihren Vertrauten beym ersten Blick erkennen! Und dann den Menschen in seinem wahren Wesen, in allen seinen Lagen uns so giebt, daß wir innigst mit ihm fühlen und laut sagen: Er ist unser Bruder! (…) Man wird uns den Enthusiasmus verzeyhen, womit wir dieses Stück ankündigen. Doch was verzeyhen? Wehe dem, der hierinnen nicht mit uns fühlt! Oder, haben ihm die Regeln die Empfindungen nach und nach gestohlen, nun dann mag der bleyerne Masstab Aristotelis und seiner ihn noch mehr erschwerenden Anbeter mit Zentnerlast auf ihm liegen! Was kümmerts uns andere, die wir der Natur huldigen? (…) wohl uns, daß wir frey atmen!« (Frankfurter gelehrte Anzeigen, 26. Juni 1774)

Wie Goethes »Götz von Berlichingen« ein halbes Jahr zuvor, so wurde auch Lenz‹ »Hofmeister« als Manifest einer neuen, realistischen, aber nicht ängstlich um mimetische Wahrscheinlichkeit bemühten Literatur gefeiert – oder verdammt. Zu der Unbekümmertheit, mit der Lenz das Gefühlsleben wirklicher Menschen aus Fleisch und Blut darstellte, gehört auch, dass es ihm gleichgültig war, dass die Chronologie zu Beginn des zweiten Aktes in Unordnung geriet, dass Gustchen »nach der mäßigsten Rechnung 13 bis 14 Monat« schwanger gewesen sein müsste (wie ein Rezensent korrekt nachrechnete), dass nur ein zufälliger Lottogewinn die Handlung auflösen konnte, dass Augustes Kind am Anfang des fünften Aktes ein Mädchen (»Sußchen«) ist und am Ende ein »süsser Junge«. Schubart fragte, ob das glaubhaft sei, dass sich Lise auf Dauer »mit einem Castraten« begnügen würde?

Subversives Potential

Die gängige Moral setzte Lenz auch hintan. Ein anonymer Rezensent beharrte auf der Gültigkeit des Gesetzes, »daß ein rechtschafner Man niemals eine von einem andern geschändete Frauensperson heirathen dürfe, gegen die der Verf(asser) den Fritz von Berg handeln läst. Keine mildernden Umstände können das erträglich machen; hier hilft auch keine Philosophie. Denn die Sache gründet sich auf die Natur der Dinge, nach welcher eine Frauensperson, die einen solchen Fehltrit begangen hat, nie eine gute Ehefrau werden kan«.

Lenz aber interessierte dergleichen nicht. Er stellte Unwahrscheinlichkeiten geradezu aus, um das subversive Potential des Lustspiels zu entfesseln. Gerade die Haltlosigkeit der komödiantischen Auflösung aller Konflikte kritisiert aufs Schärfste die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit. Die Probleme des bürgerlichen Trauerspiels (zum Beispiel der Konflikt zwischen »Adel« und »Bürger«) werden nicht mehr tragisch genommen: »Bruder Berg« nennt der bürgerliche Pätus seinen adligen Kommilitonen, und dieser jenen »Bruder Pätus«, als spielten die Standesdifferenzen keine Rolle mehr. Auch ein anderes traditionell beliebtes Trauerspielmotiv wird nicht mehr tragisch aufgefasst: Die »verführte«, nichtehelich Mutter gewordene junge Frau begeht keinen Kindsmord und muss ihren Fall auch nicht mehr mit dem Tod sühnen. Das Problem ist lösbar, »wenn erst die Utopie real geworden, wenn erst aufgeklärte Vernunft als wahres Humanum die Menschen zur Menschlichkeit erzieht. (…) Das bürgerliche Trauerspiel weicht der Komödie, wo die bürgerliche Moral (…) nicht unbesehen mehr akzeptiert wird, sondern ihrerseits vor vernünftiger Humanität lächerlich wird. Hier liegt wohl die eigentliche Modernität des Autors Lenz, und hier liegt denn auch zugleich der gesellschaftlich-fortschrittliche Akzent der Gattung Komödie«, so Peter Christian Giese in einer Studie über das »Gesellschaftlich-Komische« (1974).

Diese Konzeption der Komödie »als Kritik und Utopie« (Giese) musste 175 Jahre später einen Autor interessieren, der seinerseits für den gesellschaftlichen Fortschritt eintrat, und dies auch gern mit komödiantischen Mitteln. Gemeint ist Bertolt Brecht, der ab 1949 in Helene Weigels Berliner Ensemble mitarbeitete.

Die erste Premiere des neugegründeten Staatstheaters war am 8. November Brechts Volksstück »Herr Puntila und sein Knecht Matti«, die zweite Maxim Gorkis »Wassa Schelesnowa« am 23. Dezember 1949 gewesen. Nun war man auf der Suche nach einem Klassiker für das überwiegend kleinbürgerliche Publikum. Nicht ohne Bedauern notierte sich Brecht, dass »die hauptmasse unseres publikums (…) nur etwa 0,3 prozent arbeiter enthält«.

Brecht wählte den »Hofmeister« von Lenz: »Geehrtes Publikum, unser heutiges Stück / Wurd verfaßt einhundertfünfzig Jahre zurück. / Drin trete aus der Vergangenheit Tor / Ich, des deutschen Schulmeisters Urahn, hervor.« Hans Gaugler, in der Rolle des Hofmeisters, stellte sich so im Prolog dem Publikum vor, vor genau 74 Jahren, am 15. April 1950 im Deutschen Theater zu Berlin. Inszeniert hatte das Stück ein Regiekollektiv, das aus Brecht, Ruth Berlau, Benno Besson, Egon Monk und Caspar Neher bestand.

Die deutsche Misere

Die zu Grunde liegende Bearbeitung des Stücks aus dem 18. Jahrhundert, in wenigen Wochen entstanden, hat Brecht mit dem größten Vergnügen vorgenommen. Er merzte die utopische Illusion der Komödie des 18. Jahrhunderts aus. Keine standesübergreifende Verbrüderung mehr, kein Vorschlag einer Bildungsreform durch einen aufgeklärten Aristokraten. Soziale Knechtung, individuelle Drangsalierung, psychische Erniedrigung, Unterdrückung und vergeistigende Sublimierung natürlicher Lüste: Das sind nicht mehr ironisch apostrophierte »Vorteile der Privaterziehung«, sondern genuine Bestandteile eines Gesellschaftssystems, das auf Ausbeutung beruht.

Brecht verriet dem Publikum im Prolog des Stücks, welche Lehre er mit seiner Bearbeitung buchstabieren wollte: »Das ABC der Teutschen Misere.« Und im Epilog, den auch der »Darsteller des Hofmeisters« zu sprechen hatte, führte er aus: »Und das war nun der Komödie Schluß: / Wir hoffen, ihr saht ihn nicht ohne Verdruß / Denn ihr saht die Misere im deutschen Land / Und wie sich ein jeder damit abfand / Vor hundert Jahr und vor zehn Jahr / Und vielerorts ists auch heut noch wahr. / Den deutschen Hofmeister habt ihr gesehn / Zu seinem Gelächtergolgatha gehen / Einen armen Teufel, den sie so schinden / Daß er nicht mehr weiß, was vorn und was hinten. / In einem Gleichnis überlebensgroß / Geht er am End auf sich selber los / Austilgend seine Zeugungskraft / Die ihm nur Pein und Elend schafft. / Denn wenn er sich natürlich gibt / Macht er sich oben unbeliebt. / Hat er sich gebückt, verbeugt, gebogen / Wird ihm der Brotkorb hochgezogen / Und erst wenn er verstümmelt und entmannt / Wird er von oben anerkannt. / Gebrochen ist sein Rückgrat. Seine Pflicht / Ist, daß er nun das seiner Schüler bricht. / Der deutsche Schulmeister, erinnert ihn nur: / Erzeugnis und Erzeuger der Unnatur! / Schüler und Lehrer einer neuen Zeit / Betrachtet seine Knechtseligkeit / Damit ihr euch davon befreit!«

Nicht ohne Skepsis sah Brecht auf die Versuche, das Bildungswesen nach dem Zweiten Weltkrieg auf demokratische Weise zu erneuern. Ging das mit den alten Lehrern? Die Deutschlehrer seiner Zeit sah er in Verlängerung des Hofmeister-Schicksals immer noch als »geschlechtsloseste aller wesen«. Und er stellte klar, dass die Titelfigur in der Aufführung des Berliner Ensembles keine Identifikationsfigur sein sollte: »Der Hofmeister selbst erntet unser Mitgefühl, da er sehr unterdrückt wird, und unsere Verachtung, da er sich so sehr unterdrücken läßt.«

Paul Rilla, einer der wenigen geistig unabhängigen Literaturwissenschaftler und Theaterkritiker in der frühen DDR, war begeistert von der Inszenierung: »Zweifellos hat man nicht den ›Hofmeister‹ von Lenz gespielt, sondern eine Brechtsche Interpretation. Aber was an dieser außerordentlichen und beispielhaften Aufführung Textbearbeitung ist, darf nicht mit der unintelligenten Bühnenmache unbefugter Regie-Komödianten verwechselt werden. (…) Wo Lenz in seiner reformerischen Enge befangen bleibt, tritt in der Bearbeitung der wirkliche gesellschaftliche Konflikt zutage. (…) Wird dem Dichter Lenz damit etwas Fremdes imputiert?« Nein: »Es wird ihm zurückgegeben, was er besitzt.« Es sei vielleicht nicht Lenz, aber »Lenz plus Brecht. Wobei die Summierung eine Potenzierung ergibt«.

Dennoch hielten manche die Bearbeitung für verfehlt. Vor allem Kulturpolitiker der DDR nahmen Anstoß, und zwar wegen Brechts In­anspruchnahme des »Hofmeisters« für die Darstellung der »Teutschen Misere«. Mit diesem Stichwort wurde seit den 1840er Jahren das Missverhältnis von politischem Idealismus und ausbleibender Revolution in den deutschen Ländern benannt.

Brecht hielt Lenz’ Stück für »die früheste – und sehr scharfe – zeichnung der deutschen misere. als gegenstück hat es wohl nur DIE RÄUBER, wo der mensch, mensch zu bleiben, räuber werden muß. hier muß der mann, gesellschaftsfähig zu bleiben, sich entmannen«.

Das passte nicht zur Ideologie von der immer progressiv zu deutenden Funktion des literarischen Erbes für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Als Klassiker wäre ein Stück von Lenz eher als Denkmal »des Ringens der deutschen Menschen und des Volkes, um seine innere und äußere Freiheit« zu inszenieren gewesen – um eine nahezu inhaltsleere Phrase von Otto Grotewohl, dem ersten Ministerpräsidenten der DDR zu zitieren –, statt als Illustration der deutschen Misere. »Damit standen sich zwei Auffassungen gegenüber, die in den folgenden Jahren zu beträchtlichen Meinungsverschiedenheiten führen sollten«, so formulierte der Theaterhistoriker Ernst Schumacher Ende der 1970er Jahre.

Späte Renaissance

Brecht hat die Renaissance des Jakob Michael Reinhold Lenz nicht mehr erlebt. Aber er hat sie mit angestoßen. »Denn mit Brecht beginnt eigentlich nach langer Pause wieder die Bühnengeschichte des Autors Lenz, erst nach der Bearbeitung des ›Hofmeister‹ wurden auch das Original und andere Werke von Lenz für spielbar gehalten«, hielt Peter Christian Giese 1974 fest.

Seither avancierte Lenz zu einem Liebling der Literaturwissenschaft; aber »die Aufmerksamkeit, die Lenz in der Wissenschaft findet«, habe »keine Entsprechung im deutschsprachigen Theater« gefunden, hielt Hans-Gerd Winter im Jahr 2000 fest. An diesem Befund hat sich im letzten Vierteljahrhundert kaum etwas geändert. Dabei hätte mindestens der alle konventionellen Erwartungen querende »Hofmeister« das Zeug, gegenwärtige Theaterschaffende herauszufordern.

Arnd Beise ist Professor für Germanistik an der schweizerischen Universität Freiburg. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 18. August 2023 über die Epoche des Sturm und Drang in der deutschen Literatur.

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