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Aus: Ausgabe vom 15.04.2024, Seite 8 / Ansichten

Polnische Realpolitik

Von Reinhard Lauterbach
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Abstimmung am Freitag im Warschauer Parlament

Man könnte den Ausgang der Abtreibungsdebatte im polnischen Parlament ohne Schwierigkeit als weiteres Beispiel dafür darstellen, wie die regierenden Liberalen in einer der für ihren Wahlsieg im Oktober entscheidenden Fragen »umgefallen« seien. Nur wäre dieses Argument zu billig. Denn die Koalition wird allein durch den Willen zusammengehalten, die Herrschaft der rechtsnationalen PiS zu beenden. Für die Forderung nach einer Fristenlösung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche hätte Donald Tusk auch mit Unterstützung der Linkspartei keine Mehrheit zusammenbekommen, und die Abstimmung über die Liberalisierung zu forcieren, hätte nur eine heroische Niederlage riskiert. Das Thema statt dessen in einen noch zu bildenden parlamentarischen Sonderausschuss zu schieben, war zudem aus einem anderen Grund das realpolitisch einzig Mögliche: Bis zum Sommer 2025 würde jede Liberalisierung des Abtreibungsrechts in Polen sowieso am Veto von Staatspräsident Andrzej Duda scheitern, und Abgeordnete der Rechtsparteien würden mit Sicherheit selbst unter einem anderen Präsidenten den Versuch unternehmen, das Thema Schwangerschaftsabbruch nochmals vom von PiS-Richtern dominierten Verfassungsgericht beerdigen zu lassen. Die Bretter, die die Anhänger einer Liberalisierung zu bohren haben, sind in Polen wirklich dick.

Hinzu kommt, dass die Tusk-Koalition sich selbst nicht einig ist, wie weit die Liberalisierung der Bestimmungen gehen soll. Die konservative Bauernpartei PSL und die christlich-liberale Partei »Dritter Weg« von Sejmmarschall Szymon Hołownia wollen allenfalls die Verschärfung aus dem Jahre 2020 zurücknehmen und den sogenannten Abtreibungskompromiss von 1993 wieder in Kraft setzen. Hołownia hat überdies Ambitionen auf das Amt des Staatschefs und ist deshalb mit Blick auf die Präsidentenwahl 2025 daran interessiert, auch für »gemäßigte« Konservative wählbar zu sein. Seine Forderung nach einer Volksabstimmung über das Thema verrät vor allem die Absicht, sich an dem Thema nicht die Finger zu verbrennen.

Die polnische Linkspartei verliert in der Abtreibungsfrage dagegen gerade ihre Eigenständigkeit gegenüber der »Bürgerkoalition« von Donald Tusk. In der Sejmdebatte vom Donnerstag waren die Argumente der Vertreterinnen beider Parteien praktisch nicht voneinander zu unterscheiden. Tusk hat indes eines der Themen gekapert, mit denen die Linke sich zu profilieren hoffte. Das wirft ein weiteres Mal die Frage auf, ob die Wende ins Linksliberale der richtige Weg ist, die Existenz der Linken zu stabilisieren.

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