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Aus: Ausgabe vom 16.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Kernkraftenergie

Ein Jahr ohne AKW

Vor einem Jahr gingen die letzten deutschen Meiler vom Netz. Sonne, Wind und Co. liefern Hälfte des Strombedarfs
Von Wolfgang Pomrehn
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Dampft nicht mehr, wurde eingemottet: Das AKW Emsland im niedersächsischen Lingen

Es ist ein Jahr her, dass die drei letzten deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet wurden. Nach 34 beziehungsweise 35 Jahren gingen am 15. April 2023 die Meiler Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg, Ohu 2 in Bayern und Emsland in Niedersachsen vom Netz. Nicht immer war ihr Betrieb störungsfrei gewesen. Im Juli 2004 wurde zum Beispiel am AKW Neckarwestheim radioaktiv verseuchtes Wasser in den Neckar geleitet. Die Betreiberfirma brauchte drei Wochen, um die Aufsichtsbehörde über den Vorfall zu informieren. Später, ab 2017, wurden immer wieder bei den Revisionen Risse an den Rohren des Dampferzeugers festgestellt. Die Dicke der Rohrwände war teilweise um 91 Prozent reduziert, wie die Berliner Taz seinerzeit unter Berufung auf das Stuttgarter Umweltministerium schrieb. Ein Teil der Rohre wurde außer Betrieb genommen, der Reaktor jeweils wieder angefahren, aber von Jahr zu Jahr traten neue Risse auf. Zeitweise wurden 191 gezählt. Letztlich ging das Russisch Roulette, das Betreiber und Aufsichtsbehörde betrieben, aber gut aus. Es kam nicht zum Rohrbruch, der die Kühlung des Reaktors akut gefährdet und damit zu einem größeren Störfall geführt hätte.

Die Episode ist nur einer von zahlreichen Zwischenfällen – Trafobränden, Schnellabschaltungen, radioaktiven Emissionen und anderem –, die sich in der 61jährigen Geschichte westdeutscher Atomkraftwerke ereignete. Die ostdeutschen AKW bei Greifswald und in Rheinsberg waren bereits 1989 und 1990 abgeschaltet worden. Doch bemerkenswerterweise spielen all diese Unfälle wie etwa auch der gleichzeitige Ausfall der AKW Krümmel und Brunsbüttel bei Hamburg Ende Juni 2007, der in der Hansestadt zeitweise alle U-Bahnen stillstehen ließ, in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle. Statt dessen wird immer wieder einmal von interessierter Seite lanciert, die Versorgung mit Strom sei nun, nach der Abschaltung der letzten AKW, nicht mehr sicher und Deutschland auf französischen Atomstrom angewiesen.

Die Fakten sehen indes deutlich anders aus. Praktisch zeitgleich zur Abschaltung der letzten AKW ging auch die Stromerzeugung der Braun- und Steinkohlekraftwerke zurück. Der Grund dafür dürften vor allem höhere Preise für CO2-Emissionen sein, aber auch der wachsende Anteil von Sonne, Wind und Co. Diese liefern inzwischen mehr als die Hälfte des deutschen Strombedarfs, auch wenn man die zahlreichen Selbstversorger in der Industrie mitrechnet, die meistens Gaskraftwerke haben.

Allen Unkenrufen zum Trotz führte aber weder die Stillegung der letzten AKW noch die zeitgleiche Drosselung der Kohlekraftwerke zu Versorgungsengpässen oder gar zu Stromausfällen. Selbst im Winter nicht. Die dunkle Jahreszeit ist wegen der geringen Ausbeute der Solaranlagen problematisch, insbesondere, wenn auch noch windarme Wetterlagen hinzukommen. Doch auch im Winter 2023/24, Deutschlands erstem seit 1961/62, in dem kein einziges AKW lief, gab es keine Blackouts. Und das, obwohl die Kohlekraftwerke so wenig Strom wie seit langem nicht erzeugten.

Sicherlich hat das auch damit zu tun, dass der Stromverbrauch krisenbedingt etwas zurückgegangen ist. Aber vor allem hat Deutschland aufgehört, Nettostromexporteur zu sein. Statt dessen wurden 2023 nach den Zahlen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) unterm Strich 9,2 Milliarden Kilowattstunden eingeführt, was rund zwei Prozent des Bedarfs waren. Diese relativ geringe Menge hätte ohne weiteres auch in den hiesigen Kohle- oder Gaskraftwerken produziert werden können, doch das rechnete sich offenbar für die Betreiber nicht.

Bis vor kurzem sah es noch ganz anders aus. Zwischen 2003 und 2022 wurde stets mehr Strom aus- als eingeführt. Zeitweise betrug der Nettoexport acht bis zehn Prozent der bundesweiten Stromproduktion. Oder in anderen Worten: Rechnerisch wurden auf dem Höhepunkt der Stromexporte (2015–2018) 56 bis 73 Prozent des deutschen Atomstroms exportiert. Diese Zeiten sind nun vorbei. Stromein- und -ausfuhren sind ausgeglichener, und die AKW sind für die Versorgung vollkommen entbehrlich.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Carsten G. aus Leipzig (17. April 2024 um 17:58 Uhr)
    Lieber Herr Pomrehn, immer wieder gern lese ich Ihre detailreichen Artikel zu Fragen der Klimapolitik, gar nicht gern lese ich jedoch schlechten Ausdruck und falsche Begriffe. Wenn Dinge zur selben Zeit geschehen, so tun sie dies simultan, parallel oder auch synchron, üblich ist der Begriff gleichzeitig. Wenn die Dinge dafür dieselbe Dauer benötigen, nennt man das zeitgleich. Bitte vermeiden Sie daher Umschreibungen wie »die zeitgleiche Drosselung«. Den Bedarf für eine Sache ermittelt man vorher, dieser Wert ist selten genau; wieviel man dann wirklich gebraucht hat, weiß man erst rückblickend, dann nennt man das Verbrauch. Bitte vertauschen Sie nicht grundlos zwei Begriffe für zwei Zustände wie hier: »was rund zwei Prozent des Bedarfs waren« Danke
  • Leserbrief von Bodo Müller aus Ludwigsburg (17. April 2024 um 11:15 Uhr)
    Man kann zur konventionellen Stromerzeugung stehen, wie man will. Fakt ist, für die sog. erneuerbaren Energien wird eine neue Infrastruktur benötigt, bestehend aus WKA, Solar-»Farmen« und zusätzlichen Stromleitungen zur Verteilung. Das alles wird viel Geld kosten. Dazu kommt noch der Rückbau der »alten« Technologien. Wer wird das alles wohl bezahlen müssen? Hinzu kommen noch die ganzen Subventionen für die erneuerbaren Energien. So mussten bspw. schon Betreiber von Off-Shore-Anlagen bezahlt werden, obwohl diese Anlagen noch gar nicht in Betrieb waren, weil die nötigen Leitungen fehlen. Außerdem war als Backup-Technologie die Errichtung von 60 Gaskraftwerken geplant. Leider haben wir wegen des Terror-Anschlags auf unsere Energieversorgung kein billiges Gas mehr. Aber auch hier müssten die Betreiber für den nichtkontinuierlich Betrieb entschädigt werden. Ganz abgesehen davon, dass diese Betriebsart den CO2-Ausstoß erhöht! Zur Wahrheit gehört auch, die negativen Folgen der erneuerbaren Energien zu erwähnen. Dies sind der größere Flächenverbrauch, der Verlust von landwirtschaftlicher Nutzfläche (die Bauern verdienen mehr, wenn sie diese Flächen verpachten, als wenn sie Lebensmittel produzieren!). Außerdem haben WKAs einen negativen Einfluss auf die Tierwelt (Vogelschlag, Insektensterben) und das lokale Klima. Fazit: Es wird viel Geld in eine unsichere Energieversorgung investiert, welche abhängig von Wind und Sonne ist, anstatt das Geld in die Erforschung neuer Technologien (Stellerator, schnelle Brüter) zu investieren. Für mich ist das alles ein gigantisches Umverteilungsprogramm von unten nach oben! Dazu passt: Die Stadtwerke Oranienburg bieten gerade keine Möglichkeit mehr für Wallboxen und Neuanschlüsse an. Kämpferische Grüße Bodo Müller

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