4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 13.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
junge-Welt-Maigalerie

Lage voller Widersprüche

Die Ausstellung »50 Jahre Nelkenrevolution« in der jW-Maigalerie in Berlin-Mitte
Von Kai Köhler
Was war möglich? Bei der Vernissage wurde kräftig diskutiert (Berlin, 11.4. 2024)
Notwendige Kämpfe: Blick in die Ausstellung

Das portugiesische Militär putschte 1926. Die Folge waren fast 50 Jahre Diktatur, davon fast vier Jahrzehnte wirtschaftliche Stagnation. Ab 1961 erstarkten aber Befreiungsbewegungen in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau, und das Kolonialreich wurde teuer. Um den Krieg zu finanzieren, förderte das Regime die Industrialisierung und ausländische Investitionen. Die Gesellschaft geriet in Bewegung. Der Widerstand, der hauptsächlich von Kommunisten getragen wurde, gewann an Kraft. Doch auch jüngere Offiziere erkannten, dass es auf die alte Art nicht weitergehen konnte. Am 25. April 1974 bereitete ein weiterer Putsch der Diktatur ein Ende. Dieser Putsch jedenfalls und seine Folgen sind als »Nelkenrevolution« in die Geschichte eingegangen, benannt nach den Blumen, die begeisterte Menschen den beteiligten Soldaten in die Gewehrläufe steckten.

Das Ausstellungskollektiv 50 Jahre Nelkenrevolution hat Schautafeln zusammengestellt, die bis zum 3. Mai in der Maigalerie der jungen Welt zu sehen sind. Knappe, präzise Texte erklären die wichtigsten Stationen: zunächst vom »Estado Novo«, dem konservativ-klerikalfaschistischen Modell der Diktatur, über Widerstand und Kolonialkrieg bis zum Sturz der Regierung. Doch ist es eine Sache, das Alte zu beseitigen, und eine andere, das Neue zu befestigen. Und vor allem: welches Neue? Weitere Stationen der Ausstellung illustrieren die Kämpfe, die nach dem 25. April in einer Lage voller Widersprüche notwendig wurden.

Viele Offiziere erkannten, dass sich etwas ändern musste. Einige von ihnen zogen die Konsequenz, sich auf eine sozialistische Zukunft hin zu orientieren, andere (zumeist höherrangige) wollten nur das Marschgepäck erleichtern und eine überflüssig gewordene Regierungsform und einen kostspieligen Kolonialismus loswerden. Ein zweiter Widerspruch bestand zwischen der revolutionären Dynamik in dem städtischen (und industriellen) Zentrum Lissabon sowie dem Süden mit seiner Bauernbewegung einerseits und dem konservativen und katholisch beeinflussten Norden andererseits. Hier zeichnete sich in den politischen Umschwüngen der folgenden Monate die Gefahr eines Bürgerkrieges ab. Das wiederum stellte hohe Anforderungen an die kommunistische Partei, die natürlich ein Maximum an politischem und sozialem Fortschritt zu erreichen versuchte. Auf der anderen Seite war klar, wie beschränkt der Handlungsspielraum blieb. Denn als dritte Widerspruchsebene kam die außenpolitische hinzu.

Oft wurde, auch in dieser Zeitung, bestritten, dass die NATO die Wertegemeinschaft ist, die sie behauptet zu sein. Dass Portugal Gründungsmitglied ist, scheint die Skepsis zu bestätigen. Doch war und ist die NATO, von 1949 bis heute, konsequent. Wo immer sich ein Ansatz zu einer vernünftigen Organisation menschlichen Miteinanders zeigt, bekämpft sie ihn, droht sie mit diplomatischer Verständigung, zeigt sie Waffen vor. 1974/75 war klar, dass das Kriegsbündnis in Westeuropa einen eigenständigen Weg zum Sozialismus nicht dulden würde. Die Erinnerung da­ran, wie in Indonesien 1965 mit US-amerikanischer Unterstützung mindestens eine halbe Million tatsächlicher und angeblicher Kommunisten abgeschlachtet wurde, wie 1973 in Chile die Regierung Salvador Allende weggeputscht und mit der Unterstützung der CIA eine wirtschaftsliberale Diktatur errichtet wurde, war noch frisch. Man hätte in Washington keine Sekunde gezögert, auch in Lissabon ein Blutbad anzurichten. In Bonn, wo die SPD regierte, bevorzugte man die Variante, reformistische Schwesterparteien zu fördern, die ein paar fortschrittliche Ideen aufgriffen, ihre konsequente Umsetzung aber torpedierten.

Die Ausstellung deutet die Frage an, ob etwas darüber hinaus überhaupt möglich gewesen wäre. In der Konsequenz ist das die Frage, ob es sich bei der »Nelkenrevolution« überhaupt um eine Revolution handelte und ob sie es in der damaligen politischen Konstellation überhaupt sein konnte. Dies war auch implizit Thema eines Disputs im Publikum bei der Ausstellungseröffnung.

Am 25. April wird der britische Korrespondent und Dokumentarfilmer John Green über seine damaligen Erfahrungen in Portugal sprechen, gefolgt von einem Auftritt der portugiesisch-deutschen Band Amigos do Zeca. Am 2. Mai wird dann der Historiker António Louçã über die deutsche Einmischung in die Ereignisse berichten. Die wichtigsten Inhalte der Ausstellung, mit beeindruckendem zeitgenössischem Bildmaterial, sind in einer Broschüre zusammengefasst, die auch wertvolle Literaturhinweise zum Weiterlesen birgt.

»50 Jahre Nelkenrevolution«, Mai­galerie, Torstraße 6, 10119 Berlin, Mittwoch bis Freitag, 13 bis 18 Uhr, bis 3. Mai

Sonderveranstaltung zum 50. Jahrestag mit John Green und Amigos do Zeca am 25. April

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