Vorgeplänkel in Chemiebranche
Von Oliver RastStimmungsmache, darin sind sie geübt: die Bosse des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC). Im Vorfeld des Auftakts der Tarifverhandlungen am Montag ätzt der tarif- und sozialpolitische Spitzenverband der chemisch-pharmazeutischen Industrie gegen die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). »Es ist höchste Zeit, dass die IG BCE die kritische Lage der gesamten Branche anerkennt und sieht, dass wir uns nur gemeinsam aus dem Krisenmodus herausbewegen können«, wurde BAVC-Verhandlungsführer Matthias Bürk am Mittwoch in einer Mitteilung zitiert. Entsprechend schwadroniert die Kapitalseite melodramatisch von einer »Krisentarifrunde«.
Was fordert die Gewerkschaft? Gewohnt Moderates. Eine Erhöhung der Entgelte etwa um sieben Prozent, tarifliche Regelungen für Wertschätzung und Besserstellung von IG-BCE-Mitgliedern sowie eine Modernisierung des Bundesentgelttarifvertrags, hieß es am Mittwoch in einem Statement. Forderungen, die die Bundestarifkommission der IG BCE in Erfurt für die 585.000 Branchenkollegen gleichentags beschlossen hatte. Einstimmig. Damit endete gewerkschafts- und betriebsintern eine zehnwöchige Debatte, an der sich bei zahlreichen Mitglieder- und Vertrauensleuteversammlungen, Bezirkskonferenzen und in regionalen Tarifkommissionen bundesweit Tausende IG-BCE-Mitglieder beteiligt hätten. »Die Diskussionen in den vergangenen Wochen haben eindrucksvoll belegt, wie sehr den Menschen die Reallohnverluste der vergangenen Jahre auf den Nägeln brennen«, sagte IG-BCE-Tarifvorstand und Chemieverhandlungsführer Oliver Heinrich laut Statement.
Erwartbar, Verständnis haben die Chemiebosse dafür nicht. Gewerkschafter redeten die Branchenlage bloß schön, um die Entgeltforderung zu rechtfertigen, die mit der ökonomischen Situation unvereinbar sei. Denn: Seit Beginn des Ukraine-Kriegs ist die Produktion in der Chemie- und Pharmaindustrie um neun Prozent eingebrochen. Mehr noch, der Umsatz rutschte mit einem zehnprozentigen Minus in den Keller. Bürk: »Wir verlieren Boden in Sachen Wettbewerbsfähigkeit und haben 2023 nicht mehr produziert als 2005.«
Es sei auch kein Aufschwung in Sicht, lamentiert Bürk. Deshalb wäre der Forderungskatalog der IG BCE weder krisengerecht noch finanzierbar. Ohne Umsatzplus kein Lohnplus, so dessen simple Formel. Und: »Wir müssen dem Schutz des Standorts Deutschland oberste Priorität einräumen und die begonnene Deindustrialisierung gemeinsam stoppen.« Nur so ließen sich Standorte und Beschäftigung sichern. Kurzum, eine Branche in der Krise brauche einen Tarifabschluss für die Krise, betonte Bürk.
Sowieso: Es gebe keinen Nachholbedarf für die Beschäftigten in der »Hochlohnbranche Chemie und Pharma«. Bereits zu Jahresbeginn seien die Entgelte um 3,25 Prozent erhöht worden. Im Schnitt verdienten Tarifbeschäftigte in Vollzeit 73.000 Euro jährlich, rechnete Bürk vor. »Unter dem Strich liegt der Anstieg tariflicher Leistungen mit plus 48 Prozent seit 2010 deutlich über dem Preisanstieg im selben Zeitraum (plus 36 Prozent).«
IG-BCE-Tarifvorstand Heinrich widerspricht und bekräftigt die Gewerkschaftsforderungen: »In einer Industrie, deren Personalkosten lediglich ein Siebtel des Umsatzes ausmachen, wird das keinen Betrieb überlasten.« Heinrich warnte die Industriellen ferner davor, die Branchenlage systematisch schlechtzureden – und den Tarifkonflikt anzuheizen. Weil: »Wir erleben keine branchenweite Krise von Chemie und Pharma – wir erleben eine gesellschaftliche Krise aus Reallohnverlusten und fehlender Binnennachfrage.« Es brauche mehr Kaufkraft, mehr Optimismus, aber keinen Attraktivitätsverlust für den Industriezweig.
Wie geht es weiter? Beginn der Tarifrunde ist in Rheinland-Pfalz, im Stammland des Chemieriesen BASF. Wie erwähnt ab Montag. Weitere der neun Tarifbezirke folgen. Noch gilt der alte Tarifvertrag – und mit ihm die Friedenspflicht. Beide enden am 30. Juni. Bis dahin bleibt den sozialpartnerschaftlichen Kontrahenten Zeit, sich in Stellung zu bringen.
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