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Aus: Ausgabe vom 13.04.2024, Seite 2 / Inland
Femizide in Deutschland

»Es wird oft auf Partnergewalt verengt«

Onlinedatenbank soll für mehr Information und Aufklärung über Morde an Frauen in Deutschland sorgen. Ein Gespräch mit Nora Reich
Interview: Barbara Eder
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Arbeit an Strukturen: Demonstration gegen Femizide in Hannover (15.11.2023)

Sie haben das Projekt »Feminizidmap« ins Leben gerufen, mit dem Tötungsdelikte an Frauen in Deutschland dokumentiert werden. Was hat Sie dazu bewogen?

Das Projekt feminizidmap.org verfolgt seit 2018 den Anspruch, eine Datenbank zu Feminiziden in Deutschland zur Verfügung zu stellen. Mit Jahresende wird sie voraussichtlich im Internet frei zugänglich sein. Damit wollen wir eine Grundlage für akademische Forschung, Aktivismus und Journalismus schaffen. Auch die Prävention muss verbessert werden. Derzeit ist das folgende Szenario typisch: Eine Frau wird bedroht, geht zur Polizei, wird danach nicht ausreichend geschützt. Statt dessen müssten bereits alle Alarmglocken klingeln, wenn sie sich zum ersten Mal meldet, und die Zuständigen müssten sagen: Die müssen wir jetzt schützen.

Woher nehmen Sie Ihre Daten?

Wenn das Opfer weiblich ist, registrieren wir das. In einem ersten Schritt werden alle Fälle erfasst, die wir kriegen können. Dann fokussieren wir auf die Details der Tat. Anhand von Medienberichten und eigens definierten Suchfunktionen bekommen wir täglich neue Informationen. Über eine E-Mail-Adresse kann man Einschlägiges melden. Wir können nicht alle Tötungsdelikte an Frauen erfassen, sondern nur diejenigen, die zum Beispiel über die Medien publik gemacht werden. Die polizeiliche Statistik führt etwa 300 getötete Frauen in Deutschland pro Jahr, in unserer Datenbank registrieren wir jährlich über 200 Fälle, die Schnittmengen mit der offiziellen Zahl aufweisen. Diese Fälle rekonstruieren wir – mit sämtlichen Details.

In Politik und Medien ist oft von der Tötung einer Frau die Rede. Wie definieren Sie Femizid?

Es gibt mehrere wissenschaftliche Definitionen. Wir verwenden den Begriff Feminizid statt Femizid – er impliziert, dass der Staat in der Verantwortung steht, frauenverachtende Taten anzuerkennen und entsprechend zu bestrafen. In der Öffentlichkeit findet indes oft eine Verengung auf die Tötung einer Frau durch ihren Partner oder Expartner statt. Wenn ein Vater seine Tochter ermordet, weil er nicht will, dass sie einen Freund hat, dann fällt das nicht darunter – ist jedoch eine Form von patriarchaler Gewalt. Für uns ist relevant: Wurde die Frau von einem Bekannten oder Verwandten getötet? War es der Partner oder Expartner, waren es Söhne oder Väter, Brüder oder Cousins, Freier oder Zuhälter? Das alles bleibt oft außen vor, wenn man nur von Partnergewalt ausgeht.

Nach welchen Kriterien kann in Ihrer Datenbank gesucht werden?

Wir unterscheiden primär zwischen Partnerschaftsgewalt und »familiärer Gewalt«, ein »patriarchaler Femizid« firmiert nochmals als eigenständige Kategorie. Pro Feminizid gibt es 67 Datenpunkte: Ort der Tat, Namen von Täter und Opfer, Alter, Beruf, Hinterbliebene, Zeitpunkt der Berichterstattung – das sind nur einige davon. Dann differenzieren wir innerhalb der Kategorien: Wo ist die Tat passiert? Im eigenen Zuhause? Im gemeinsamen Zuhause mit dem Täter oder im öffentlichen Raum? Gab es zuvor eine einstweilige Verfügung oder Gewaltanwendung? Was war die Tatwaffe, wie waren die Umstände?

Sie gehen bei Ihrer Tätigkeit von einem nicht-essentialistischen Verständnis von Geschlecht aus.

Frauen sind für uns weibliche Personen jeglichen Alters, also auch Transfrauen. Und wir erfassen Tötungen, die von Frauen an Frauen begangen werden – empirisch betrachtet sind es recht wenige, aber es gibt sie. Erst vor einem Jahr etwa wurde eine Schülerin von zwei Freundinnen getötet. Was mich selbst immer wieder überrascht, ist das hohe Alter einiger Feminizidopfer: Ein Täter bringt in fortgeschrittenem Alter zuerst seine Frau und in manchen Fällen auch sich selbst um, letzteres wird medial häufig als »erweiterter Suizid« bezeichnet. In einer Woche hatte ich einmal drei Fälle, da war das jüngste Opfer 65 und das älteste 93.

Auch bei Amokläufen spielt Frauenhass eine Rolle, dabei werden deutlich mehr weibliche als männliche Personen erschossen, zum Beispiel in Winnenden 2009. Und wenn an den Anschlag in Hanau im Jahr 2020 erinnert wird, beschränken sich die Medien häufig auf die neun getöteten Personen mit Migrationshintergrund. Dass der Täter auch seine bettlägerige Mutter kaltblütig erschossen hat, wird schlicht vergessen.

Nora Reich engagiert sich seit über fünf Jahren ehrenamtlich im Projekt feminizidmap.org. In das Projekt lässt sie ihre Erfahrung aus über 15 Jahren Datenexpertise ­einfließen

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