junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Donnerstag, 16. Mai 2024, Nr. 113
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 12.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Bildende Kunst

Der Schein trügt

Zwei sehenswerte Ausstellungen über das Spiel mit visueller Verwirrung im Zentrum für Aktuelle Kunst in Berlin-Spandau
Von Matthias Reichelt
Vage Versprechungen2 Dirk Übele_bearbeitet.jpg
Nichts als Fassade: Sabine Groß fingiert mit Gips und Acrylfarbe die Oberfläche einer Wand aus Kartons, Holzkisten und Stoffdecken

Zwei Ausstellungen im Zentrum für aktuelle Kunst (ZAK) in der Zitadelle Spandau fordern die Besucher heraus, die Exponate sehr genau zu studieren. Seit 2018 ist die Zitadelle, früher eher als kulturhistorischer Ort bekannt, durch den Kulturamtsleiter Ralf F. Hartmann um einen neuen Schwerpunkt für ausdrücklich zeitgenössische Kunst erweitert worden. Da das kunstaffine Publikum in Berlin anders als zum Beispiel in New York noch nicht so daran gewöhnt ist, hin und wieder auch einmal eine U-Bahn-Fahrt von einer halben oder einer Stunde auf sich zu nehmen, spielt das ZAK leider noch nicht die ihm gebührende Rolle als Hotspot aktueller und brisanter Kunst. Eine kluge Entscheidung von Hartmann war es, immer mehrere Ausstellungen an einem Tag zu eröffnen, so dass dort dann der sprichwörtliche Berliner Bär steppt. Nun also wieder zwei Schauen, die unbedingt sehenswert sind, auf einen Schlag.

Traue nie dem Schein des ersten Blicks, könnte als Motto über beiden Ausstellungen stehen. In »Boosted ­Mimicry« (aufgeladene/verstärkte Mimikry) betreiben Sabine Groß, Barbara Hindahl und Tom Früchtl meisterhaft die »Vortäuschung falscher Tatsachen«, wie es der Betrugsparagraph des Strafgesetzbuches definiert. Allerdings geht es nicht um Betrug, sondern um das ästhetische Spiel mit der visuellen Verwirrung des Kunstpublikums. Würden die Gemälde von Tom Früchtl irgendwo an einer Straßenecke abgestellt, sie gerieten bei der nächsten Müllbeseitigung ins Visier der Berliner Stadtreinigung. Seine Malerei auf großen Leinwänden simuliert die Spuren von Plakatabrissen, Farbschlieren und Verletzung von Oberflächen bis zu Klebebandresten auf einem Karton so gekonnt, dass die Betrachter immer im Zweifel bleiben, was womöglich echt oder fingiert ist. Ein kleineres Ölgemälde mit dem ­Titel »Holey« (»löcherig«) aus diesem Jahr besteht aus einer von sanft grün zu weiß verlaufenden Farbfläche auf einer Pressspanplatte. Im oberen Bildbereich klafft ein Loch samt Farbabsplitterung, so dass Pressspan sichtbar wird. Aber auch diese Verletzung der Oberfläche ist raffiniertes Handwerk – nichts als eine Simulation mit Farbe.

Ebenso bei Barbara Hindahl, die in großer Perfektion Tintenkleckse auf Papier tuscht. Widersteht das Publikum dem Drang, weiterzugehen, und folgt womöglich einem detektivischen In­stinkt, um ganz nah heranzutreten, erkennt es, dass es sich bei den Tintenklecksen um feine, ja penibelste Bleistiftzeichnungen handelt. In dieser ­Weise hat Hindahl auch auf großen weißen Blättern mit schwungvoll dynamischen Pinselstrichen in roter und blauer Farbe eine abstrakte Malerei geschaffen, die mit Farbstiften fabriziert wurde. Ihr gelingt es, selbst Computerfehldrucke täuschend echt zeichnerisch nachzubilden.

Sabine Groß ist die Bildhauerin in dem Dreiergespann. Sie türmt Kartonboxen zu einer freistehenden Wand mitten im Ausstellungsraum übereinander, als würde hier gerade für einen Umzug gepackt. Weit gefehlt, denn auch Sabine Groß ist Meisterin des »als ob«. Ihre Wand ist ein »potemkinsches Dorf«, nichts als eine Fassade, wie sie für eine Kinoproduktion in Babelsberg stehen würde. Dafür verwendet sie polymerisierten Gips, auf dessen Oberfläche sie mit Acrylfarbe das fingierte Antlitz von Kartons, Holzkisten und Stoffdecken aufmalt. Treten die Besucher hinter die Kulisse, offenbart sich ein mit Sandsäcken stabilisiertes Holzgerüst und die hohlen Gipsformen.

Für die zweite Ausstellung »Flesh & Bone« haben sich der Fotograf ­Jürgen Baumann und die Bildhauerin Birgit Dieker zusammengetan, um einen Dialog über Haut, Körper und Irritation zu führen. Baumann arrangiert seine analogen Fotografien von Details gekrümmter Körper sowie verschränkter Gliedmaßen zu großen Tableaus, die entschlüsselt werden müssen. Das höchst geschickte Arrangieren der Körper sowie die gewählte Perspektive verhindern eine schnelle Erkennbarkeit und führen auf assoziative Abwege. Die verfremdende Ansicht von aufeinander gepressten Gliedmaßen kann schon mal eine genitale Anmutung bekommen wie bei dem Tableau »Hautgout« von 2003. Auch Münder lassen sich so fotografieren, dass sie sowohl phallische wie auch vaginale Formen annehmen können. Das Spiel mit Ungewissheit und Mutmaßung wird von Baumann sehr geschickt betrieben. Seine Art der durch Wahl von Ausschnitten und die daran anschließenden Arrangements zu Collagen verfremdete Fotografie funktioniert auch mit industriell gefertigten Teilen, die von weitem etwa Ähnlichkeit mit dem Gesicht eines Gorillas annehmen können.

Birgit Dieker fertigt Skulpturen aus Textilien und anderen Alltagsstoffen wie Porzellan oder Leder, die animalischen oder menschlichen Körpern nachempfunden sind. »Haltung« lautet der Titel einer wunderbar aus den Bruchstücken eines Teeservices von Old England komponierten Wirbelsäule und Beckenschale, die sie unter Glassturz wie in einem medizinhistorischen Museum zeigt. Ob die Künstlerin mit dieser Skulptur auch die Wankelmütigkeit und den Opportunismus bei politischen Haltungen im Blick hatte, wie wir sie aktuell erleben, bleibt wohl ihr Geheimnis. Raumgreifend ist ein riesiges Herz, dem die Gefäße wie die Beine einer riesigen Spinne entspringen. Mit der Ambivalenz dieses Bildes spielt Dieker gekonnt und gibt ihm den Titel »Ein Geheimnis, das nicht verraten werden darf«. Ihr Interesse an der Pathologie wird deutlich an den Querschnitten durch das menschliche Herz, die Dieker komplett aus Schichtungen verschiedenfarbiger Textilien arrangiert.

Beide Ausstellungen versammeln Werke, die überzeugender Ausdruck für die Spielfreude und Phantasie von Künstlerinnen und Künstlern sind, um mit Camouflage und Irritation Augen und Sinne des Publikums herauszufordern und zu schulen.

»Boosted Mimicry« (Tom Früchtl, Sabine Groß, Barbara Hindahl)

»Flesh & Bone« (Jürgen Baumann/Birgit Dieker)

Zentrum für Aktuelle Kunst (ZAK), bis 5. Mai 2024

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • Gundula Schulze Eldowy: Robert Franks Augen im Rückspiegel, New ...
    28.03.2024

    Training für die schlaffe Seele

    Melange der Motive: Eine Berliner Ausstellung über die Fotografenfreundschaft von Gundula Schulze Eldowy und Robert Frank
  • »Die Welt in der Episode, augenzwinkernde Tiefgründigkeit« – die...
    26.03.2024

    DDR konkret

    »Alltag besingen, wie er ist«. Zum 80. Geburtstag des Liedermachers Reinhold Andert
  • Liberales Minimum: Forderungen nach einem Waffenstillstand in Ga...
    28.02.2024

    Gefällig divers

    Nach Israel-Kritik auf der Berlinale drohen der Bundesjustizminister und der Berliner Kultursenator mit Konsequenzen

Regio:

Mehr aus: Feuilleton

                                                   Heute 12 Seiten extra - Beilage zum Thema: Naher Osten