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Aus: Ausgabe vom 12.04.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Bürgerkrieg im Sudan

Warnung vor Libyen-Szenario

Sudan: Bericht untersucht Folgen einer Verlegung der Hauptstadt nach Port Sudan. Weitere Zersplitterung droht
Von Philip Tassev
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Haupthandelshafen und neue De-facto-Hauptstadt: Port Sudan am Roten Meer

Droht dem Sudan eine Zersplitterung wie Libyen? Die Denkfabrik Small Arms Survey mit Sitz in Genf hat in einem aktuellen Bericht die politische Ökonomie von Port Sudan als neuer De-facto-Hauptstadt des Sudan untersucht. Der Report kommt zu dem Schluss, dass die Verlegung von zentralen Regierungseinrichtungen in die Stadt am Roten Meer den Zerfall des ohnehin vom Bürgerkrieg zerrissenen Landes weiter beschleunigen könnte.

Seit dem Ausbruch des Krieges zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) im April 2023 ist das öffentliche Leben in Khartum, der eigentlichen Hauptstadt des Landes, größtenteils zum Erliegen gekommen. Polizei und Rettungsdienste der Metropole am Zusammenfluss von Weißem und Blauem Nil mussten die Arbeit einstellen. Nachbarschaftskomitees organisieren eine rudimentäre Grundversorgung und – mehr oder weniger – sichere Transportkorridore durch die von den Kriegsparteien umkämpften Viertel. Staatliche Institutionen, Hilfsorganisationen und diplomatische Vertretungen haben die Stadt, die vor dem Krieg mehr als sechs Millionen Einwohner zählte, verlassen und sich in anderen Teilen des 46-Millionen-Landes niedergelassen. Port Sudan, vom Bürgerkrieg zwischen SAF und RSF bisher weitgehend verschont geblieben, hat sich dabei als Ausweichort angeboten. Im September 2023 hatte General Abdel Fattah Al-Burhan, seit dem Putsch 2021 Chef der Militärregierung, angekündigt, das Hauptquartier der SAF dorthin zu verlegen. Die Stadt ist Haupthandelshafen des Landes und die Flughäfen sind dort noch in Betrieb, was in der aktuellen Situation besonders für die Lieferung von Hilfsgütern und für Diplomaten ausländischer Mächte und Vertreter des Militärregimes von großer Bedeutung ist.

Al-Burhans Regierung, der »Souveräne Rat«, behauptete ursprünglich zwar, sie habe nicht die Absicht, Port Sudan zu ihrem neuen Sitz zu machen, die praktischen Entscheidungen sprechen allerdings eine andere Sprache. Nicht nur die Sitzungen der Armeeführung, auch Ministertreffen finden inzwischen hier statt, die sudanesische Zentralbank überwacht von hier aus die noch funktionierenden Banken des Landes, der Bau von Konferenzzentren und einer Präsidentenvilla ist geplant. Dabei stellt nicht nur die Verlagerung von großen Teilen des Staatsapparats mitsamt dem dazugehörenden Personal, sondern auch der Zustrom von Tausenden Menschen, die aus den umkämpften Gebieten flüchten, eine große Belastung der städtischen Infrastruktur und der gesamte Region dar, in der es kaum organisierte Flüchtlingslager gibt. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) von Ende Februar haben mittlerweile fast 250.000 Binnenvertriebene Zuflucht in dem östlichen Bundesstaat am Roten Meer gesucht, die meisten davon in Port Sudan selbst, das vor dem Krieg eine Bevölkerung von rund 500.000 Einwohnern hatte.

Die auch De-jure-Bestimmung von Port Sudan zur Hauptstadt könnte weitreichende Folgen für den Sudan haben. Der Führer der RSF, Mohammed Hamdan Daglo, genannt »Hemeti«, hatte in einer Rede im September 2023 die Errichtung einer Gegenregierung in Khartum angedroht. Da dort aber nach wie vor ein Großteil der Truppen der SAF stationiert ist, ist fraglich, wie das gelingen soll.

Ein geeigneterer Standort einer RSF-Regierung wäre dagegen Al-Dschunaina im äußersten Westen des Landes, rund 1.200 Kilometer von Khartum entfernt. Wie Middle East Eyes berichtete, hätten sich die RSF und ihre Verbündeten bereits ernsthaft mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, die Kleinstadt zu ihrem Regierungsitz zu machen. Strategische Gründe, wie die nur rund 30 Kilometer entfernte Grenze zum Tschad, über die die Nachschubrouten der RSF führen, sowie die Lage in West Darfur, der traditionellen Machtbasis der Paramilitärs, sprechen dafür.

Mehrere Beobachter und Analysten der Situation im Sudan warnen vor einem »libyschen Szenario«. Libyen ist nach der Beseitigung Muammar Al-Ghaddafis durch die NATO in einen westlichen und östlichen Teil zerfallen.

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