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Aus: Ausgabe vom 12.04.2024, Seite 8 / Ansichten

Unperson des Tages: Michail Bulgakow

Von Reinhard Lauterbach
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Michail Bulgakow im Jahre 1935 in Moskau

Der 1. April ist ja schon eine Weile vorbei, deshalb soll hier gar nicht erst behauptet werden, das schwäbische Städtchen Marbach am Neckar wolle seinen berühmtesten Sohn wegen unschwäbischer Umtriebe – insbesondere Flucht aus dem Militärdienst und weitere Tätigkeit im Ausland – posthum ausbürgern. Um so etwas ganz im Ernst zu erleben, muss man schon in die Ukraine gehen. Dort hat das Institut für Nationales Gedenken – eine Behörde zur Normierung des historischen Gedächtnisses auf das »Narrativ« der ukrainischen Nationalisten – jetzt den nächsten Versuch unternommen, den russischen Erzähler und Dramenautor Michail Bulgakow aus dem kulturellen Erbe der Ukraine und insbesondere der Stadt Kiew zu streichen. Auch die Gedenkstätte in seinem Geburtshaus am Andrejewskij Uswis (Andreassteig) in Kiew soll geschlossen werden. Begründung jeweils: Bulgakow sei zwar in Kiew geboren, aber er habe auf Russisch geschrieben, er habe kein Verständnis für die nationale Identität der Ukrainer gezeigt, und einer seiner Romanhelden habe sich sogar über die ukrainische Sprache lustig gemacht (was stimmt, nachzulesen in »Die Weiße Garde«). Bulgakow als Opfer der Cancel-Unkultur befindet sich in guter Gesellschaft. Ebenfalls im Februar hatte der Kiewer Stadtrat die Bulgakow-Straße im Zug des Kampfs mit dem »imperialen Erbe« umbenannt und bei der Gelegenheit auch die Tschaikowski-Straße der US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland zugeeignet.

Aber »Manuskripte brennen nicht«. Bulgakows Schriften sollen gnädigerweise nicht verboten werden. So wird etwa seine Erzählung »Das hündische Herz« weiterhin empfohlen – wegen ihrer Satire auf den Vulgärmaterialismus und den Opportunismus in der Kulturpolitik der frühen Sowjetunion. Dass mal bloß niemand auf die Idee kommt, das »Hündische Herz« mit der geistigen Atmosphäre der freien Ukraine zu vergleichen.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (12. April 2024 um 10:13 Uhr)
    Es ist wichtig, Bulgakows Schaffen im Kontext seiner Zeit zu betrachten. Er lebte und arbeitete in einer Ära, in der die politische und kulturelle Landschaft Osteuropas stark von den Auswirkungen des Russischen Zarenreiches und später der Sowjetunion geprägt war. In dieser Zeit war die russische Sprache dominant und wurde oft als die Sprache der Bildung, Literatur und Verwaltung angesehen. Was Bulgakows literarische Figuren betrifft, ist es wahr, dass einige von ihnen die ukrainische Sprache möglicherweise nicht respektvoll behandelt haben. In »Die Weiße Garde« finden sich beispielsweise Charaktere, die sich über die ukrainische Sprache lustig machen. Diese Darstellungen spiegeln jedoch nicht unbedingt Bulgakows persönliche Ansichten wider, sondern können vielmehr als literarisches Mittel zur Charakterisierung und zur Darstellung der damaligen sozialen Dynamik betrachtet werden. In Bezug auf Bulgakows Verhältnis zur ukrainischen Identität ist es wichtig anzuerkennen, dass seine Entscheidungen und Darstellungen komplex sind und nicht einfach zu beurteilen sind. Er war ein Produkt seiner Zeit und seiner persönlichen Erfahrungen, und seine Werke bieten reichhaltige Einblicke in die kulturellen und politischen Spannungen, die das frühe 20. Jahrhundert in Osteuropa prägten. Er bleibt ein bedeutender Schriftsteller, der die Vielschichtigkeit der menschlichen Erfahrung und Identität in seinen Werken erkundet hat.
    • Leserbrief von Stefan Ahmann aus Koblenz (13. April 2024 um 11:48 Uhr)
      Die russische und die ukrainische Literatur zu trennen dürfte schwierig werden. Unter den großen russischen Schriftstellern sind Gogol und Bulgakow nun mal die »ukrainischsten«. Bei Gogol spielt die ukrainische Sprache im romantischen Frühwerk eine Rolle, aber nur um Lokalkolorit zu vermitteln, sie ist nie die Struktursprache seiner Werke. Aber wer hat die ukrainische Landschaft so gefeiert wie Gogol, z. B. im Taras Bulba oder in Старосветские Помещики? So etwas wirft man doch nicht weg, nur weil er auf russisch geschrieben hat. Nur weil der Feind nicht in Nuancen denkt, muss man doch selber nicht damit aufhören.

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