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Aus: Ausgabe vom 13.04.2024, Seite 6 / Ausland
Terror der Besatzung

Doppelt umzingelt

Westbank: Leben im permanenten Ausnahmezustand
Von Anne Herbst, Nablus
Unter den Augen der Besatzer: Palästinensische Studentin passiert Armeeposten, der israelische Siedler bewacht (Nablus, 18.4.2022)
Einschusslöcher und Blutspritzer: Hier wurde ein 18jähriger von der israelischen Armee erschossen (Sebastia, 22.7.2023)
Der Repression trotzen: In Hafes Kajeds Andenkengeschäft in Sebastia gibt es lokale Erzeugnisse wie Olivenöl und Kunsthandwerkliches und auch ein Café

»Man kann hier nicht aussteigen«, warnt Hassan, als er mit seinem Wagen in eine Landstraße von Nablus in Richtung Sebastia abbiegt. »Vielleicht schießen sie.« Früher hat Hassan als Touristenführer gearbeitet, aber heute hält die prekäre Sicherheitslage Besucher ab. Immer häufiger eröffnen die israelischen Besatzer das Feuer, bevor sie das Ziel identifizieren. Manchmal sprechen sie auch unverhohlen Gewaltdrohungen aus: »Vor zwei Tagen wollte ein Soldat mein Telefon kontrollieren«, sagt Mustafa, ein Freund von Hassan*. »Als ich dagegen protestierte, antwortete er: ›Ich kann dich sogar töten, wenn ich dich verdächtig finde.‹«

Aus Shavei Schomron, einer Hochburg der nationalreligiösen Siedlerbewegung – in der die Politikerin Limor Son Har-Melech von Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvirs kahanistischer Partei Otzma Jehudit lebt –, sind Schüsse zu hören. »Wahrscheinlich üben sie einmal wieder«, meint Hassan über die vorwiegend ultrarechten Bewohner der Siedlung. Shavei Schomron war 1977 mit dem Segen des damaligen Likud-Premierministers Menachem Begin an der Straße nach Tulkarm nahe einer israelischen Militärbasis auf konfisziertem Land der palästinensischen Gemeinden Al-Nakura und Deir Scharaf errichtet worden und ist laut internationalem Recht illegal.

Sebastia ist ein rund zwölf Kilometer nordwestlich von Nablus gelegener Ort mit etwa 4.000 Einwohnern, der als älteste Siedlung des Westjordanlands gilt. Seine aus der Antike stammenden Ruinen von unter griechischer und römischer Herrschaft erbauten Tempeln und Amphitheatern zog viele Jahre nicht nur Archäologen an – um sie tobt auch ein Kulturkampf für die ideologische Legitimierung von mehr Landraub: Von 880 bis 723 vor unserer Zeitrechnung befand sich hier die Hauptstadt des nordisraelitischen Königreichs Samaria. Grund genug für fanatische Siedler, die Ausgrabungsarbeiten zu behindern, Relikte zu zerstören, Gebiete einzuzäunen, um dort religiöse Rituale abzuhalten, und mit Unterstützung der israelischen Armee, Touristen aus der ganzen Welt, die früher mit Reisebussen kamen, einzuschüchtern – mit Schikanen an den Checkpoints, gelegentlich sogar mit Warnschüssen.

»Wir konnten schon während der ersten und zweiten Intifada und der Gazakriege 2008 und 2014 nichts einnehmen«, erzählt Hafes Kajed, der einen 1968 von seinem Vater gegründeten Souvenirshop mit einem Café betreibt. Seit dem 7. Oktober herrscht totaler Stillstand. »Es reicht nicht mehr zum Überleben«. Sein Laden liegt direkt an einer historischen Stätte, durch die die Trennlinie zwischen der Zone B mit palästinensischer Teilautonomie unter israelischer Sicherheitskontrolle und Zone C, die vom israelischen Militär verwaltet wird, verläuft. Die Fahne Palästinas, die an einem Mast über dem menschenleeren Vorplatz weht, an dem gegenwärtig kein einziges Geschäft geöffnet hat, ist den Siedlern ein Dorn im Auge – sie fordern ihre Entfernung und endgültige Schließung aller arabischen Geschäfte. Kajed berichtet von Drangsalierungen und Nötigung. An der Tür finden sich Einschusslöcher von einem nächtlichen bewaffneten Angriff, bei dem ein Gast verwundet wurde. Die Palästinenser sollen um jeden Preis vertrieben werden.

»Niemand ist hier auch nur irgendwo sicher. Jede Nacht dringen israelische Soldaten in Wohnungen ein – manchmal nur zu Trainingszwecken«, so Kajed. »Die Israelis machen schon seit 1948, was sie wollen, und die USA, Deutschland und andere westliche Länder finanzieren das mit Steuergeldern.« Hassan sieht das nicht anders und betont, dass es in Sebastia keinen militanten palästinensischen Widerstand gibt. »Trotzdem haben sich die israelischen Soldaten auch vor Beginn des gegenwärtigen Gazakriegs nicht um internationales Recht geschert. Zum Beispiel haben sie vor neun Monaten einen jungen Mann im Stadtzentrum in seinem Auto erschossen – einfach nur so.«

In Nablus, das seit jeher ein Brennpunkt von Besatzungs- und Siedlerterror ist und das größte Flüchtlingslager der Westbank beherbergt, herrscht Depression – viele Menschen sind psychisch ausgelaugt von dem permanenten Ausnahmezustand. »Es gibt kaum ein Haus in dieser Stadt, in dem kein Bewohner getötet, verletzt oder verhaftet wurde«, sagt Hamsa, ein junger Krankenpfleger in einem bis auf den letzten Platz besetzten Servicegroßraumtaxi auf dem Weg nach Ramallah. Viele Palästinenser sind trotz der Gefahren unterwegs, um bei ihren Angehörigen das Ende des Ramadans mit Eid Al-Fitr (Zuckerfest) zu feiern.

Die Mobilität ist eingeschränkt in der von israelischen Siedlungen und Militärposten umzingelten Gegend, in der diverse Straßen für Palästinenser blockiert sind – häufig durch Eisentore, deren Zahl seit Kriegsbeginn erhöht wurde. Die lange Wartezeit am Checkpoint Al-Murabbaa an der Road 60, an dem am Vortag einem Passanten ein Auge ausgeschlagen wurde, bietet Gelegenheit, um über Verzweiflung und Hoffnung zu reden: »Die Welt muss erfahren, was hier geschieht, dann sind wir nicht allein«, sagt eine Frau und schenkt der Reporterin, die »unsere Stimmen weit entfernt hörbar machen wird«, das Gebäck, das ihre Mutter ihr für die Feiertage mitgegeben hat. Die Gespräche verstummen, als der Wagen endlich an der Reihe ist und israelische Soldaten mit im Anschlag gehaltenen Gewehren die Insassen anbrüllen, sofort die Tür zu öffnen.

* Beide Namen von der Redaktion ­geändert

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