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Aus: Ausgabe vom 11.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Film

Das Leben der anderen

Kam vor 25 Jahren ins Kino: »Der talentierte Mr. Ripley«
Von Frank Jöricke
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So werden wie er: Dickie Greenleaf (Jude Law) am Saxophon

Es waren die Jahre vor »Nine Eleven«. Hollywood wirkte auf einmal wie das New Hollywood der späten 60er und frühen 70er – aufregend und wild. Filme wie »Die Truman Show«, »American Beauty«, »Fight Club« und »­Traffic – Macht des Kartells« sezierten die Gegenwart oder verlängerten sie derart überrealistisch in die Zukunft, dass man beim Schauen erschrak und dachte: »Ja, das könnte passieren!« All diese (post-)modernen Instant-Klassiker liefen unter »Mainstream« und wirken doch mutiger und verstörender als manches, was heuer unter dem Etikett »Independent« oder »Arthaus« firmiert.

Das Angebot war riesig. Man ging jede Woche ins Kino und verpasste dennoch eine Menge. Zum Beispiel »Der talentierte Mr. Ripley«. Warum sollte man auch Geld für eine Literaturverfilmung ausgeben, die in den 50ern spielt, wenn Gegenwart (»Magnolia«) und Zukunft (»Matrix«) so viel zu bieten hatten? Heute könnte man einige Gründe nennen. Angefangen bei den Schauspielern. Der Film ist – unbeabsichtigt – Starkino. Denn er gab Jude Law, Philip Seymour-Hoffman und Cate Blanchett die Gelegenheit, in Nebenrollen zu brillieren und sich so für neue Hauptrollen zu qualifizieren. Der chronisch unterschätzte Matt Damon wiederum ist das perfekte Abbild von Patricia ­Highsmiths Mr. Ripley. Niemand verkörpert derart überzeugend den braven All American Boy, hinter dessen netter Fassade sich seelische Abgründe auftun. Schauspielerisch setzt »Der talentierte Mr. Ripley« Maßstäbe.

Für Deutsche taugt er zudem als Augenöffner. In einem Land, in dem gefühlt jeder zur Mittelschicht gehört oder gehören will, vergisst man leicht, dass es auch eine Oberschicht gibt. Diese ist – anders als in Ländern wie England, wo man sich sehr wohl bewusst ist, dass es verschiedene Klassen gibt – quasi unsichtbar. Selbst jene, die besitz- und einkommensmäßig dazugehören, behaupten von sich gern, sie wären »obere Mittelschicht«. Bloß kein Aufsehen erregen. Man fürchtet weniger den Klassenkampf als den Neid.

Das ist in den USA, dem Land der unbegrenzten Vermögenswerte, anders. Dort kennt man weder Scheu noch Scham, wenn es um das Zurschaustellen von Reichtum geht. »Der talentierte Mr. Ripley« führt dies lehrbuchhaft vor. Hier sind junge Menschen, die sich garantiert keine Sorgen um ihre Zukunft machen müssen und sich darüber auch im klaren sind. Da ist Marge (Gwyneth Paltrow), von der behauptet wird, sie schreibe an einem Buch. Doch schon nach wenigen Szenen weiß man, dass dieses Werk nie vollendet werden wird. Zwischen Cocktails und Partys bleibt keine Zeit für konzentrierte geistige Arbeit.

Auch aus Dickie (Jude Law), von Beruf Sohn, wird nie ein zweiter Charlie Parker werden. Seine Begeisterung für das Saxophon ist nur eine Grille; man könnte ja auch Schlagzeug spielen – heute so, morgen so. Im Grunde sind alle chronisch gelangweilt. Am Ende geht es nur darum, Zeit totzuschlagen. Viel Alkohol hilft dabei. Beim Betrachten des kollektiven Müßiggangs fühlt man sich unweigerlich an Christian Krachts »Faserland« (1995) erinnert: lauter reiche Jünglinge, die nichts mit sich anzufangen wissen. Empathie ist von ihnen nicht zu erwarten. Menschen werden benutzt, auch sexuell, und dann im Stich gelassen.

So ertappt man sich dabei, dass man Sympathie für den gesellschaftlichen Hochstapler, Betrüger und Mörder ­Ripley entwickelt. Der Straftäter im juristischen Sinn ist – moralisch betrachtet – auch nicht schlimmer als seine Opfer. Wer sich unter Unmenschen bewegt, muss selber zum Unmenschen werden, um zu überleben. So entpuppt sich der vermeintliche Retro-Krimi als schwer aktuelles Sittengemälde. Vor malerischen italienischen Kulissen zeichnet er in schmutzigen Farben das Bild einer Oberschicht, die nur um sich selbst kreist. Man hat es ja immer schon geahnt, aber selten derart überzeugend präsentiert bekommen: Geld versaut eben doch den Charakter.

»Der talentierte Mr. Ripley«, Regie: Anthony Minghella, USA 1999, 139 Min., auf Netflix

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