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Aus: Ausgabe vom 11.04.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Konjunktur

Rekord bei Firmenpleiten

Niedergang der deutschen Wirtschaft setzt sich fort. 1.297 Unternehmensinsolvenzen im März. Bevölkerung verarmt. Aussichten trübe
Von Ralf Wurzbacher
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Alles hat ein Ende, nur … – Halberstädter sollen nach dem eröffneten Insolvenzverfahren weiterproduziert werden

Blank, pleite, bankrott! Die Zahl der Firmenaufgaben in Deutschland eilt von einem »Rekord« zum nächsten. Aber die Bundesregierung setzt weiter auf »business as usual«, also: teures Frackinggas von Uncle Sam und milliardenschwere Kriegsertüchtigung. Die neueste Quittung für den fortgesetzten ökonomischen Crashkurs stellte am Mittwoch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) aus. Nach Daten des regelmäßig veröffentlichten IWH-»Insolvenztrends« gab es im ersten Quartal 2024 so viele Unternehmenspleiten wie noch nie seit Beginn der Erhebungen im Januar 2016. Allein im März zählten die Forscher bundesweit 1.297 Insolvenzen von Personen- und Kapitalgesellschaften, was den vormaligen Höchstwert vom Februar noch einmal um neun Prozent übertrifft. Nimmt man nur die größten Fische, denen die Luft ausging (zehn Prozent der Fälle), könnten allein hier 11.000 Arbeitsplätze verloren gehen, rechnete das Institut in einer Medienmitteilung vor.

Der allgemeine wirtschaftliche Niedergang wirkt ungebremst auf die Bevölkerung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts vom Mittwoch waren 2023 rund ein Fünftel der Menschen in Deutschland von Armut und sozialer Ausgrenzung »bedroht«, was bedeutet: Die Betroffenen sind faktisch arm. 2022 fielen bereits 17,5 Millionen Personen in die Rubrik, im Vorjahr waren es 17,7 Millionen. Wer zu wenig zum Leben hat, muss sich irgendwie durchschlagen, mithin auch regelwidrig. Gemäß der am Dienstag veröffentlichten Polizeilichen Kriminalitätsstatistik wurden im zurückliegenden Jahr fast ein Viertel mehr Ladendiebstähle erfasst als im Vorjahr. Neben den zur Anzeige gebrachten rund 426.000 Fällen geht der Handelsverband Deutschland (HDE) von einer neunmal so hohen Dunkelziffer aus und beklagt Verluste von mehreren Milliarden Euro im Jahr. »Das sind unhaltbare Zustände, Ladendiebstahl ist keine Bagatelle«, bemerkte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth in einer Stellungnahme vom Dienstag. Was er nicht sagte: Speziell die Lebensmittelbranche hat die Preise im Windschatten der Energiekrise exorbitant hochgetrieben, Stichwort »Gierflation«. Die Kunden zahlen es den Abzockern augenscheinlich heim.

So kommt eins zum anderen, denn auch der Einzelhandel steht mit dem Rücken zur Wand. Weil die Verkaufszahlen sinken, erwäge ein Drittel der Mittelständler, »lieber morgen als übermorgen aufzugeben«, hatte HDE-Präsident Alexander von Preen schon vor fünf Monaten geunkt. Wie richtig er damit lag, unterstreicht der neue IWH-»Insolvenztrend«. Die Zahl der Firmenpleiten lag demnach im Vormonat 35 Prozent über dem Wert vom März 2023 und »30 Prozent über dem Märzdurchschnitt der Jahre 2016 bis 2019«. Schlimmere Phasen habe es lediglich vor etwa 20 Jahren gegeben, als das IWH die Daten noch nicht erhoben hatte. Als Gründe führt das Institut im speziellen teure Kredite sowie höhere Lohn- und Energiekosten an. »Viele Geschäftsmodelle basierten auf der Annahme niedriger Zinsen. Die Kalkulation ist mit dem Anstieg der Zinsen 2022 nicht mehr aufgegangen«, zitierte das Handelsblatt IWH-Insolvenzforscher Steffen Müller. Dazu komme der verbreitete Fachkräftemangel und eine »nachholende Coronainsolvenzwelle«. Mit den Pandemiehilfen habe die Politik »vor allem unproduktive Unternehmen am Leben erhalten, die es nun in einem deutlich schwierigeren Umfeld nicht mehr schaffen«, so Müller.

Besonders gebeutelt ist der Immobiliensektor. Im Vergleich zu 2020 haben sich die Insolvenzen im Grundstücks- und Wohnungswesen mit einem Plus von 148 Prozent mehr als verdoppelt. Im Bauwesen sei die Zahl von 353 im 1. Quartal 2020 auf 510 in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres gestiegen. Allein für die erste Aprilwoche vermeldete der Münchner Merkur am Mittwoch die Eröffnung von 30 Verfahren in der Branche. Immerhin: Müller vom IWH erwartet im Mai, spätestens im Juni sinkende Zahlen. Dann fange die konjunkturelle Lage in Deutschland langsam an, sich zu erholen. Dass die Industrie das Niveau vor dem Ukraine-Krieg wieder erreicht, hält RWE-Chef Markus Krebber angesichts der Abhängigkeit von LNG-Importen allerdings für unwahrscheinlich. »Wir werden eine leichte Erholung sehen«, sagte der Chef des Energiekonzernes der Financial Times (Mittwochsausgabe). »Aber ich denke, wir werden einen erheblichen Nachfrageschwund in den energieintensiven Industrien erleben.«

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