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Aus: Ausgabe vom 10.04.2024, Seite 7 / Ausland
Ecuador

Ablenkung als Ziel

Ecuador: Botschaftsangriff und Verhaftung von früherem Vizepräsidenten soll Linke schwächen und innenpolitische Probleme verdecken
Von Volker Hermsdorf
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Verhaftet und im Krankenhaus: Jorge Glas wurde in das Navy-Hospital in Guayaquil gebracht (8.4.2024)

Der beim Überfall ecuadorianischer Spezialeinheiten auf die mexikanische Botschaft verhaftete Exvizepräsident Jorge Glas ist am Montag (Ortszeit) vom Hochsicherheitsgefängnis La Roca in das Marinekrankenhaus der Hafenstadt Guayaquil verlegt worden. Über die Ursache für den Notfall gibt es unterschiedliche Versionen. Verteidiger des Oppositionspolitikers von der linken Partei »Revolución Ciudadana« (RC) prangerten »Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen« an, denen Glas seit der Verhaftung ausgesetzt sei. Sie schlugen Alarm, dass »sein Leben in Gefahr ist«. Laut Gefängnisverwaltung traten die gesundheitlichen Beschwerden des 54jährigen dagegen auf, weil er die Nahrungsaufnahme verweigert habe.

»Das ist das, was ich befürchtet habe. Die Schurken werden vor Freude springen. Kraft, Jorge!« reagierte der im belgischen Exil lebende ehemalige Präsident Rafael Correa auf die Nachricht. Er rief die Anhänger der von ihm gegründeten »Revolución Ciudadana« dazu auf, sich vor dem Marinekrankenhaus zu versammeln, »wo Jorge festgehalten wird, ohne dass seine Familie Zutritt hat oder Informationen erhält«. Auch der Verteidigung seien weder »Einzelheiten zum Geschehen noch ärztliche Unterlagen oder eine eindeutige Diagnose« zugänglich gemacht worden, kritisierte Rechtsanwalt Andrés Villegas Pico. Sonia Vera, eine weitere Anwältin des Politikers, berichtet von Gewalt gegen ihren Mandanten bei der Verhaftung. Polizisten hätten ihn geschlagen. »Sie traten ihm gegen den Kopf, die Wirbelsäule, die Beine und die Hände«, und als er »nicht mehr gehen konnte, zerrten sie ihn aus der Botschaft«. Auch der Chef der dortigen Konsularabteilung, Roberto Canseco, gab an, dass er zu Boden gestoßen und geschlagen worden sei. Glas war 2017 wegen Korruption in einem offenkundig politisch motivierten Verfahren zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und vor zwei Jahren vorzeitig freigelassen worden. Weil er eine erneute Verhaftung fürchtete, floh er im Dezember in die mexikanische Botschaft und bat dort um Asyl.

Nachdem Mexiko als Reaktion auf den Überfall die diplomatischen Beziehungen abgebrochen und den Internationalen Gerichtshof in Den Haag angerufen hatte, erklärte Ecuadors Präsident Daniel Noboa, er habe »außergewöhnliche Entscheidungen« treffen müssen, »um die nationale Sicherheit, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen«. Die letzten Tage hätten »Stärke und Entschlossenheit« erfordert, und er könne nicht zulassen, dass Leuten, »die in sehr schwere Verbrechen verwickelt sind, Asyl gewährt wird«, rechtfertigte er sein Vorgehen in einer schriftlichen Erklärung. Kritik daran bezeichnete er als »Verrat an unserem Land«. Politische Beobachter wie der venezolanische Soziologe Ociel Ali López vermuten deshalb, dass Noboa den Konflikt ausgelöst hat, um von der innenpolitischen Situation abzulenken. Im Februar 2025 sind in Ecuador erneut Präsidentschaftswahlen angesetzt, da der Unternehmer im vergangenen Jahr nur für die restliche Amtszeit des zurückgetretenen Guillermo Lasso gewählt worden war.

Angesichts der desolaten Wirtschafts- und Sicherheitslage im Land waren die Zustimmungswerte für Noboa zuletzt dramatisch gesunken. Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise hatte er entgegen bisheriger Versprechen unter anderem die Mehrwertsteuer erhöht, was eine Mehrheit im Land ablehnt. López und Rechtsanwalt Villegas verwiesen unabhängig voneinander darauf, dass der Angriff auf die Botschaft genau an dem Tag durchgeführt wurde, an dem eine Kampagne für ein Referendum begann, dessen Ausgang für Noboas Wiederwahl entscheidend sein kann. Bei der für den 21. April angesetzten Abstimmung geht es unter anderem um die Beteiligung der Streitkräfte bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durch Zeit- und Stundenverträge. Noboa habe es geschafft, alle Aufmerksamkeit auf die Auseinandersetzung mit »ideologisch feindseligen Regierungen« sowie den linken »Correismus« als gefährlichsten innenpolitischen Konkurrenten zu lenken und das Land politisch zu spalten, so López. Von dieser Polarisierung habe bei der vergangenen Wahl die Rechte profitiert.

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