4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 09.04.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
H5N1

Mit Pandemiepotential

Problem Massentierhaltung. Erstmals ist das Vogelgrippevirus H5N1 von Milchkühen auf einen Menschen übergesprungen
Von Michael Kohler
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Kühe: Verbreiten in den USA die Vogelgrippe

Niemand hielt es am 1. April für einen Scherz, als die New York Times berichtete, in Texas habe sich ein Mann bei einer Kuh mit der Vogelgrippe infiziert. Auf dem Marsch zur nächsten Pandemie hat das Virus damit gleich drei Hürden übersprungen: Es konnte zunächst in Massenbetriebe der Viehwirtschaft einbrechen, inzwischen wurde es in zwölf Milchviehherden in fünf verschiedenen US-Bundesstaaten nachgewiesen. Vieles spricht mittlerweile dafür, dass es sich nicht nur von Vögeln auf Kühe, sondern auch von Kuh zu Kuh übertragen konnte. Und dann die bedeutendste Premiere: Der Sprung von einem Säugetier auf einen Menschen. Die letzte verbleibende Hürde vor einer möglichen Pandemie ist nun der Sprung von Mensch zu Mensch.

Das Ereignis hat sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Massenmedien und Behörden neigen weiterhin dazu, mögliche Gefahren herunterzuspielen. Wissenschaftler und Fachzeitschriften jedoch äußern offener ihre Beunruhigung und hinterfragen häufiger die Massentierhaltung. Das United States Department of Agriculture (USDA) und die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) betonen, es sei erst die zweite Infektion eines Menschen in den USA, der Betroffene habe nur gerötete Augen und Vogelgrippeviren würden immer wieder Bindehautentzündungen auslösen. Die Person befinde sich bereits auf dem Weg der Besserung, die Gefahr für die Bevölkerung sei sehr gering, weitere Schutzmaßnahmen seien nicht erforderlich. Gebetsmühlenartig und mit steifer Oberlippe wiederholen die großen Medien den Satz: »Laut Aussage von Experten besteht für Menschen keine Gefahr.«

Doch bereits 1997 starb ein elfjähriges Mädchen in Thailand in den Armen seiner Mutter an der Vogelgrippe, wenig später starb auch die Mutter selbst. Jetzt verbreiten US-amerikanische Medien – und Der Spiegel übernahm es –, in den vergangenen 20 Jahren hätten sich weltweit nur 248 Menschen mit dem H5N1-Virus infiziert. Das ist unwahr. Die Zahl 248 wird von der WHO nur für die Länder Kambodscha, China, Laos und Vietnam genannt. Weltweit nennt sie für diesen Zeitraum 882 bestätigte Erkrankungen und 461 Todesfälle. Vogelgrippe kann beim Menschen also nicht nur zu geröteten Augen führen. Unter den Todesfällen sind 120 in Ägypten, 32 in der VR China, 168 in Indonesien, 41 in Kambodscha und 64 in Vietnam. Fachleute sind sich zudem darin einig, dass eine enorme Dunkelziffer besteht.

H5N1 rückt nicht nur den Menschen bedrohlich näher, sondern hat auch verheerende Folgen für die Biodiversität. Sie ist bereits auf 400 Vogelarten und auf circa 30 Säugetierarten übergesprungen. Meistens führt sie in wenigen Tagen zum Tod, viele Bestände auch bedrohter Tierarten wurden in mehreren Ländern komplett vernichtet.

Der aktuelle Seuchenzug wird von den meisten Medien als die größte je dagewesene Vogelgrippe bezeichnet, was aber immer noch verharmlosend ist. Die World Organisation for Animal Health (WOAH) sprach schon im Februar 2021 von der größten und tödlichsten Infektionswelle, die es auf dem Planeten je gab, und schätzte die Zahl der gestorbenen Vögel auf über 200 Millionen. In vielen Ländern können inzwischen die Kadaver nicht mehr eingesammelt werden, die ubiquitäre Präsenz der Viren sorgt für die weitere Ausbreitung und für weitere Artensprünge. Nur einen Tag nachdem die Ansteckung eines Menschen in Texas bekannt geworden war, gab Cal-Maine Foods, der größte Eier- und Geflügelproduzent des Landes, bekannt, dass ebenfalls in Texas in seinem Bestand H5N1 nachgewiesen wurde und nun zwei Millionen Legehennen und Junghennen getötet werden sollen. Der gesamte Bestand besteht aus sage und schreibe 58 Millionen Vögeln.

Eine differenzierte Stellungnahme erfolgte durch Angeliki Melidou, Expertin für Atemwegsviren beim European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC). Zwar gebe es in Europa noch überhaupt keine bestätigten Übertragungen auf Menschen, weder durch Vögel noch gar durch Säugetiere, dennoch bleibe die Möglichkeit, dass Vogelgrippeviren sich an Menschen anpassen und eine Pandemie auslösen, besorgniserregend. Da H5 in Europa noch nie zirkulierte, fehle eine Immunabwehr gegen H5-Viren beim Menschen, deshalb könne es zu einer großflächigen Übertragung kommen, bei der die Basisreproduktionszahl R0 größer als eins sei. Dies bedeutet: Jede infizierte Person würde im Schnitt mehr als eine weitere gesunde Person infizieren.

H5N1 ist dabei nicht das einzige pandemiepotente Vogelgrippevirus. Es gab bereits tausende Ausbrüche von H5N2, H5N3, H5N5 und vor allem von H5N8, dessen Pandemiepotential manche noch höher einschätzen als das von H5N1. Auch viele andere Viren laufen sich warm in den Tierfabriken. Der Wiener Virologe Florian Krammer rechnet in den nächsten 25 Jahren mit zwei bis drei weiteren Pandemien. Alpträume bereitet ihm das Nipah-Virus, das sich von Fledermäusen auf Schweine und von diesen auf Menschen überträgt und bei ihnen eine Todesrate von 60 bis 90 Prozent aufweist.

Massentierhaltung bietet bekanntlich die idealen Voraussetzungen sowohl für die Entstehung als auch für die Verbreitung gefährlicher Mikroben, seien es Bakterien oder Viren. Virologen unterscheiden hochpathogene aviäre Influenzaviren (HPAI) von niedrig­pathogenen (LPAI). Letztere, mit denen frei lebende Vögel schon immer relativ friedlich koexistieren, dringen in die Massenhaltungen ein und mutieren dort zu hochpathogenen Formen. An ihnen infizieren sich anschließend die Wildvögel und verbreiten sie in der Welt.

Die Behörden beschränken sich auf Versuche, die Ausbreitung des Virus durch Keulungen, Aufstallungen, Überwachungen, zahlreiche neue Vorschriften und höchst zweifelhafte Impfungen einzudämmen. Falls aber Menschenleben wichtiger als Profite sind, müsste eine rasche und konsequente Beendigung der Massentierhaltung erfolgen.

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