4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 09.04.2024, Seite 6 / Ausland
Regionalwahlen

Polen bleibt gespalten

Kommunalwahlen: Liberale räumen in Großstädten ab, auf dem flachen Land triumphiert die PiS. Achtungserfolg für linke Kandidatin in Warschau
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
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Nach Auszählung in Wrocław ist eine zweite Wahlrunde fällig, bei der Bodnar und Sutryk aufeinandertreffen (7.4.2024)

Bei den Kommunal- und Regionalwahlen in Polen am Sonntag hat sich die traditionelle Zweiteilung des Landes bestätigt. In allen Großstädten gewannen Kandidaten der regierenden »Bürgerkoalition« sofort oder gehen mit deutlichem Vorsprung in die Stichwahlen am 21. April. Dagegen konnte die rechtskonservative Partei PiS von Jarosław Kaczyński ihre Bastionen im Osten und Süden des Landes sowie in der Provinz weitgehend halten.

Gemessen an den Mandaten für die 16 Regionalparlamente, erhielt die PiS rund 34 Prozent der Stimmen und bleibt damit knapp stärkste politische Kraft. Gefolgt wird sie von der »Bürgerkoalition« von Regierungschef Donald Tusk mit 32 und der liberalkonservativen Bewegung »Dritter Weg« mit etwa 13 Prozent. Die marktradikal-nationalistische »Konföderation« erhielt 7,5 Prozent der Mandate, das Linksbündnis schnitt mit 6,8 Prozent schlechter ab als erwartet. Die Wahlbeteiligung betrug 51,3 Prozent, das liegt im langjährigen Durchschnitt für polnische Kommunalwahlen, aber weit unter der Rekordbeteiligung von 74 Prozent bei der Parlamentswahl im Oktober.

In Warschau gewann Amtsinhaber Rafał Trzaskowski die Bürgermeisterwahl im Anhieb mit 59,8 Prozent – nochmals drei Punkte mehr als 2018. Sein von der PiS aufgestellter Gegenkandidat Tobiasz Bocheński musste sich mit 18,6 Prozent begnügen. Einen Achtungserfolg erzielte in der Hauptstadt Magdalena Biejat vom polnischen Linksbündnis mit 15,8 Prozent der Stimmen – mehr als doppelt so viele, wie im Landesdurchschnitt auf die Linke entfielen. Linken-Parteichef Włodzimierz Czarzasty konnte seine Enttäuschung über das landesweite Ergebnis nicht verhehlen, versuchte aber umgehend, die vergleichsweise erfolgreiche Biejat als Nachfolgerin für Trzaskowski ins Gespräch zu bringen, falls dieser im nächsten Jahr für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren sollte.

Noch bessere Ergebnisse als Trzaskowski erzielten im ersten Wahlgang in Gdańsk Aleksandra Dulkiewicz mit 62,6 und in Katowice mit 66 Prozent Piotr Krupa, der von der Tusk-Partei unterstützt worden war, aber formal als Unabhängiger angetreten war. 60 Prozent bekam auch der amtierende Oberbürgermeister von Szczecin. In allen diesen Städten blieben die PiS-Bewerber an der 20-Prozent-Marke hängen.

Trotzdem hat die »Bürgerkoalition« keinen Anlass zu jubeln. In einer Reihe von Großstädten verloren die von ihr gestellten Amtsinhaber deutlich an Stimmen, so etwa in Poznań, wo Jacek Jaśkowiak von 55 auf 43 Prozent abstürzte, oder in Wrocław, wo Jacek Sutryk sich in der Stichwahl einer Kandidatin vom »Dritten Weg« stellen muss, die mit 30 Prozent weit überdurchschnittlich abgeschnitten hatte.

Auch regional ist das Ergebnis deutlich differenziert. Im Westen und Norden dominieren in den Regionalparlamenten die Liberalen, im Süden und Osten dagegen die PiS. Auch mehr als 100 Jahre nach der Wiederherstellung der polnischen Staatlichkeit spiegelt diese Verteilung den Unterschied zwischen den ehemals preußisch besetzten Regionen Polens sowie den nach 1945 an Polen gefallenen früher deutschen Landesteilen auf der einen sowie der früheren russischen – mit Ausnahme der Großstädte Warschau und Łódź – und österreichischen Teilungszone auf der anderen Seite wider.

Die starke Korrelation der beiden Faktoren überrascht immer wieder. Polnische Sozialwissenschaftler bringen dies mit den unterschiedlichen Modernisierungstempos in den drei Teilungszonen bzw. der viel stärkeren sozialen Durchmischung der polnischen Gesellschaft in den nach 1945 gewonnenen Gebieten in Verbindung. Der Einfluss der katholischen Kirche ist hier wesentlich geringer als in Zentral-, Süd- und Ostpolen. Selbst Unterschiede im landwirtschaftlichen Erbrecht des 19. Jahrhunderts werden zur Erklärung herangezogen: So habe der in Zentralpolen 1807 eingeführte und in Österreich übernommene Code Napoléon die Realteilung von Bauernhöfen unter allen Kindern vorgesehen, wodurch eine Vielzahl von winzigen Subsistenzhöfen entstanden sei, die als Nährboden eines Überlebenskonservatismus wirkten. Dagegen habe die Beschränkung der Erbfolge auf den ältesten Sohn in Preußen die Lösung der nachgeborenen Bauernkinder von der Scholle und damit die Verstädterung und Modernisierung vorangetrieben. Bis sich das angeglichen habe, könnten noch Jahrzehnte vergehen.

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